Eine Rezension von Eberhard Fromm


Material en masse

Günter Wirth: Der andere Geist von Potsdam
Zur Kulturgeschichte einer Stadt.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 2000, 267 S.

Es ist leicht, ein Urteil über dieses Buch zu fällen: Eine große Masse von interessantem Material aus der Geschichte der Stadt Potsdam im zwanzigsten Jahrhundert!

Es fällt dagegen schwer, ein Urteil über die Verarbeitung dieses großartigen Materials zu fällen: Zu stark - und vom Autor geradezu betont - tritt der Charakter einer Materialsammlung hervor, in der das originale Material durch einige mehr oder weniger unverbindliche Sätze des Autors miteinander verknüpft wird. Der als Germanist und Kirchenhistoriker bekannte Autor Günter Wirth (1929) fungiert hier mehr als Herausgeber von Texten.

Wirth will sein Buch als „Fugenwerk der Geschichte“ verstanden wissen, in dem „der Tag von Potsdam“ als Thema angeschlagen wird, um dann in immer neuen Konstellationen seine Folgen in der Stadt und für die Stadt anklingen zu lassen. Im Mittelpunkt steht dabei - wie der Titel es ankündigt - ein anderer Geist von Potsdam als jener, der im Zusammenhang mit dem 21. März 1933 immer wieder beschworen wird. Wirth unternimmt den Versuch, „in Konstellationen der Zeit um 1930, nach 1933 und nach 1945 Menschen, Zeitgenossen in Potsdam zu entdecken, die in ihrem Denken und Handeln, in ihrer Haltung, in ihrem (preußischen) Lebensstil, in ihrer Lebensform (,Potsdam als Lebensform‘ im Sinne von Thomas Mann: ,Lübeck als Lebensform‘) diesen anderen Geist der Stadt bezeugen.“

Diese Menschen stellt Wirth nun vor: mit knappen biographischen Hinweisen und mit ausgewählten Texten aus ihren Erinnerungen, Briefen, Autobiographien u. ä. Schwerpunkte sind dabei die Weimarer Zeit - also die Zeit vor dem „Tag von Potsdam“ -, die Zeit des Nationalsozialismus mit dem Schwerpunkt des Widerstandes vom 20. Juli 1944 sowie die Jahre eines Neubeginns nach 1945 und die Entwicklungen in der DDR. Zu Wort kommen viele Ur-Potsdamer und Wahl-Potsdamer wie Reinhold Schneider und Hermann Kasack, Lily Pinkus und Lotte Brunner, Wilhelm Kempff und Karl Foerster, Margarete Bubner-Neumann und Albrecht Schönherr. Das Personenregister und das Literaturverzeichnis lesen sich tatsächlich wie eine kleine - vor allem biographisch orientierte - Kulturgeschichte der Stadt Potsdam in unserem Jahrhundert.

Ein durchgängiges Problem, das Wirth dabei zu beschäftigen scheint - ohne daß er einmal dazu an einer Stelle explizit Position bezieht -, ist die Rolle des Bildungsbürgertums. Als eine Art Resümee dazu kann man folgende Einschätzung ansehen, in der auch die beinahe „zeitlose“ Ansicht des Autors sichtbar wird: „Wir finden in Potsdam also ein Geflecht, ein heimliches, ja unheimliches von Strömungen und Unterströmungen universalen Denkens, die, gemessen an den Maßstäben der jeweiligen Systeme, unzeitgemäß sind, in Wahrheit aber zeitgenössisches Weltbild, humane Gesittung und weltanschauliche Haltung zur Deckung bringen. Sie erweisen damit ein Ethos des Bildungsbürgertums, das gültig ist, unabhängig davon, welche Zeichen die jeweils Mächtigen für die Zeit setzten ...“


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 12/00 (c) Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

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