Eine Rezension von Kathrin Chod


„... und herrlichen Tagen führe ich euch noch entgegen.“

Christian Graf von Krockow:
Kaiser Wilhelm II. und seine Zeit
Biographie einer Epoche
Siedler Verlag, Berlin 1999, 352 S.

Am 7. Februar wurde der Reichstag im Weißen Saal des Stadtschlosses mit einem Gottesdienst eröffnet. Der Saal war dicht gefüllt, und Fanfarenrufe kündigten das Nahen des kaiserlichen Zuges an. Voran die Schloßgarde-Kompanie, zwei Herolde, die obersten Hofchargen, dann die Herren mit den Reichsinsignien. Moltke mit dem Reichssiegel, Goltz mit dem Zepter, Tirpitz mit dem Reichsapfel, Heeringen mit dem entblößten Reichsschwert, Schlieffen mit der Krone, Kessel mit dem Reichspanier, schließlich Seine Majestät in der Galauniform, gefolgt von den königlichen Prinzen. Nachdem der Kaiser die Stufen erstiegen hatte, verlas er die Thronrede. Fürstin Anton Radziwill-Castellane, eine geborene Französin, äußerte sich über diese Zeremonie: „Was seid ihr Deutschen für kalte Menschen, welchen Jubel hätte diese Szene in Frankreich ausgelöst, wie wären die Franzosen hingerissen gewesen von diesem Kaiser.“ Auch wenn die Deutschen ihren Kaiser Wilhelm II. nicht ganz so enthusiastisch verehrten, wie die Franzosen einige ihrer Monarchen, geliebt haben sie ihn schon. Und das aus gutem Grund, wie Christian Graf von Krockow meint, denn keiner verkörperte das Wesen des deutschen Durchschnittsbürgers so gut wie der Kaiser. So ist es kein Zufall, daß gleich die gesamte Epoche nach ihm benannt wurde - das Wilhelminische Zeitalter. Wer nun liest, was in vielen Einschätzungen an Negativem über Wilhelm II. geschrieben wurde, glaubt in ihm und seiner Amtszeit nur einen weiteren Meilenstein auf dem deutschen Weg ins Verhängnis auszumachen. Doch diese negativen Züge sind nur die halbe Wahrheit, und so interessiert Krockow vor allem die Widersprüchlichkeit des Kaisers und seiner Zeit. Eine Zeit, die einerseits durch gewaltige Fortschritte in Wirtschaft, Wissenschaft und Technik und andererseits durch Kulturpessimismus, diffuse Bedrohungsängste gekennzeichnet ist. Eine Epoche, in der die großen Taten (so die kleindeutsche Reichseinigung) vorbei waren und in der deshalb neue Heldentaten gefordert werden (man weiß nur noch nicht so recht wo). So widersprüchlich wie die Zeit, sieht Krockow auch den Kaiser. Wilhelm II. liebt das Militär, ist aber nicht der Kriegstreiber, als der er später dargestellt wurde, sondern der „klassische Kasernenhof-, Kasino- und Manövermilitarist und darum ein Kaiser für den Frieden, statt für den Krieg“. Ein Mann der starken Worte, aber nicht der Taten: Obwohl er als regierender Kaiser respektvolle oder gar freundschaftliche Beziehungen zu Rathenau oder Ballin hatte, äußert er sich in seinem Exil antisemitisch, nach dem Judenpogrom vom 9. November 1938 spricht er jedoch von Schande und davon, daß alle anständigen Deutschen protestieren müßten. Wilhelm II. liegt das Reden im Blut, er ist auch schlagfertig - so mit dem „Vorschlag“, nach dem Namenswechsel des englischen Königshauses doch die Oper „Die lustigen Weiber von Windsor“ in „Die lustigen Weiber von Sachsen-Coburg-Gotha“ umzubenennen. Wenn er sich aber so richtig in Fahrt redet, kommt es zu unkontrollierten Gefühlsausbrüchen wie auch zu den berüchtigten Äußerungen (so in der Hunnenrede). Der Kaiser verkörpert die überkommenen Traditionen, will dabei durchaus modern sein: Letztlich kommt es zum Zerwürfnis mit Bismarck über Kernprobleme der Sozialpolitik, und seine Regierungszeit bestimmen Fortschritte in Ausbildung, Wirtschaft, Wissenschaft und Forschung.

Wer nach heutigen sozialpädagogischen Maßstäben den Kaiser beurteilt, der müßte ihm sowieso mildernde Umstände zubilligen. Im Kapitel „Die Kindheit eines Kaisers“ beschreibt Krockow, wie bei Klein Wilhelms Erziehung so ziemlich alles falsch gemacht wurde, was Eltern und Lehrer nur falsch machen konnten. Angefangen von den grausamen Methoden, mit denen seine Behinderung geheilt werden sollte, über recht lieblose Äußerungen der Mutter („er wird nie männlich und selbständig sein wie andere Jungen“), bis zu Lehrern, denen jedes Lob fremd, Tadel dafür um so geläufiger war. Das ungestillte Verlangen nach Lob und Anerkennung sollte später den Schmeichlern Tür und Tor öffnen. Vollendet wurde diese Erziehung im Offizierskorps des I. Garderegiments. So vorbereitet, bestieg er dann mit 29 Jahren den deutschen Kaiserthron. In der Beschreibung der Regentschaft Wilhelms II. bietet Krockow keine neuen Fakten, er versucht aber, einige gängige Bewertungen in Frage zu stellen, die den letzten Kaiser vorschnell verurteilen. Dieses in Frage stellen ist wörtlich gemeint, kleidet doch der Autor manche Wertung in die Frageform. So schreibt er zu den Vorwürfen über die häufigen Reisen des Monarchen: „Wozu ist heutzutage ein Bundespräsident da, wenn nicht zum Repräsentieren, Umherreisen und Redenhalten?“

So wohltuend die nüchternere Betrachtung Wilhelms II. auch ist, die Darstellung leidet doch unter dem Zwang des Autors, sein gesammeltes Allgemeinwissen auszubreiten. Wenn etwa von den zahlreichen Reisen des Kaisers die Rede ist, verbindet Krockow das mit einem Exkurs zum Reisen an sich, von Goethe über James Cook bis zu Seume. Als Wilhelm sich ins holländische Exil begibt, wird das mit Erläuterungen zum Exil als „Fluch des zwanzigsten Jahrhunderts“ versehen. Zu ausufernd geraten auch die kulturgeschichtlichen Passagen im Kapitel „Vom Geist der Zeit“ und die oft recht langen Zitate, so etwa, wenn fast eine Seite lang über die Uraufführung eines Hauptmann-Stückes berichtet wird. Etwas befremdlich wirken auch Krockows Ausflüge in die Kriegswissenschaft. So bleibt er nicht dabei, dem deutschen Generalstab Unfähigkeit und Pflichtvergessenheit zu attestieren, da dieser mit nur einem Siegesrezept in den Krieg zog, sondern er gibt noch ein paar strategische Ratschläge. Danach hätte man besser daran getan, die Franzosen „gegen vorbereitete Stellungen längs der Vogesen anrennen und sich aufreiben zu lassen. Inzwischen hätte man sich mit der Hauptkraft nach Osten wenden, in seinen Weiten die technisch noch rückständigen und schlecht geführten russischen Armeen zerschlagen“ usw. ...

Alles in allem bietet Krockow dennoch eine lesenswerte Darstellung von Wilhelm II. und seiner Zeit mit all ihren Widersprüchen. Eine Darstellung, die weder verteufelt noch glorifiziert. Krockow läßt sich dabei leiten von einer Einschätzung Theodor Fontanes, die dieser zum Ausgang des 18. Jahrhunderts traf: „Was mir an dem Kaiser gefällt, ist der totale Bruch mit dem Alten, und was mir an dem Kaiser nicht gefällt, ist das dazu im Widerspruch stehende Wiederherstellenwollen des Uralten. In gewissem Sinne befreit er uns von den öden Formen und Erscheinungen des alten Preußentums, er bricht mit der Ruppigkeit, der Popligkeit ... Er ist ganz unkleinlich, forsch und er hat ein volles Einsehen davon, daß ein deutscher Kaiser was anderes ist als ein Markgraf von Brandenburg ... Ich wollte ihm auf seinem Turmseilweg willig folgen, wenn ich sähe, daß er die richtige Kreide unter den Füßen und die richtige Balancierstange in den Händen hätte. Das hat er aber nicht. Er will, wenn nicht das Unmögliche, so doch das Höchstgefährliche mit falscher Ausrüstung, mit unzureichenden Mitteln.“


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 12/00 (c) Edition Luisenstadt, 2000
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