Literaturstätten von Gudrun Schmidt


Schätze im Hinterhof

Philipp-Schaeffer-Bibliothek im bundesweiten Leistungsvergleich
an der Spitze

Der Aushang „1. Platz in Deutschland“ an den großen Fenstern neben der Eingangstür ist kaum zu übersehen. Dazu Zeitungsausschnitte, Glückwünsche. Im bundesweiten Leistungsvergleich, den der Deutsche Bibliotheksverband und die Bertelsmann Stiftung ausgeschrieben haben, schnitt die Hauptbibliothek Mitte am besten ab. 106 „Konkurrenten“, darunter fünf andere Berliner Einrichtungen, ließ sie hinter sich. An diesem Wettbewerb konnten sich alle Öffentlichen Bibliotheken, unabhängig von ihrer Größe und der Größe der Kommune, beteiligen. Für den Erfolg zählte: Entspricht das Angebot den Bedürfnissen der Leser, und wie wird es von ihnen angenommen? Gefragt wurde auch, wie viele Bestandseinheiten je Einwohner zur Verfügung stehen, wie gut war die Bibliothek sortiert und in welchem Maße die Medien erneuert werden. Weitere Kriterien waren die Wirtschaftlichkeit und die Weiterbildung der Mitarbeiter. In allen Bereichen lag die Bibliothek vorn. Noch ein Fakt: Jeder Einwohner des Stadtbezirks leiht knapp zwölfmal im Jahr Medien aus.

Darüber freuen sich Stefan Rogge, der Leiter der Bibliothek, und sein Team. Für ihn ist die Bibliothek integraler Bestandteil der Stadt, ein Ort, wo jeder hingehen kann, wo ein Austausch stattfindet - zwischen den Menschen oder über die Medien, die Bücher, Kassetten, CDs, Videos.

Wer die Bibliothek im dritten Hinterhof an der Brunnenstraße 181 besucht, findet Ungewöhnliches. Statt ehrfurchteinflößende dunkle Räume mit hohen Bücherwänden helle, lichtdurchflutete Galerien, kleine Sitzecken, Designermöbel, Computer-Arbeitsplätze. Wer will, kann sich zurückziehen oder via Internet weltweit kommunizieren. Unverkennbar die typische Berliner Industriearchitektur der Gründerjahre zu Beginn des vorigen Jahrhunderts. Neben verschiedenen Gewerbebetrieben, die in den Klinkerbauten von Anbeginn ein Domizil fanden, beherbergten die Brunnenhöfe bereits seit Ende der 20er Jahre im Vorderhaus eine Volksbücherei mit Kinderlesesaal, Jugendbibliothek, einem über zwei Etagen reichendenVortragssaal. Eine „Kiezbibliothek“ also mit Tradition. Daran knüpft auch der Name an. Gerade in jüngster Zeit mehren sich die Anfragen dazu. Vielleicht fühlen sich manche durch den 100. Geburtstag von Anna Seghers zu dieser Spurensuche angeregt.
Philipp Schaeffer, Kommilitone von Anna Seghers während ihres Sinologie-Studiums in Heidelbergs, wirkte von 1927 bis 1932 als Bibliothekar in der Brunnenstraße. Seit 1928 Mitglied der KPD, war er aktiv im Widerstand tätig, 1943 wurde er in Plötzensee hingerichtet.

Ihr heutiges Zuhause hat die „Bücherstube“ nach umfangreicher und stilvoller Rekonstruktion der Gewerbehöfe seit 1996 im dritten Innenhof. Schätze des Wissens auf 2 200 Quadratmetern, verteilt über drei Etagen. Nachbarn sind wie eh und je Handwerksbetriebe, dazu kommen Arztpraxen, Architekturbüros, Reisebüro, Verlag, Tanzschule und - wie es zum „Szenebezirk Mitte“ paßt - die Werbebranche. Die Bibliothek ist auf gute Nachbarschaft bedacht, und gemeinsam wollen alle die Brunnenhöfe attraktiv machen - als Pendant zu den nicht weit entfernten Hackeschen Höfen, anders, aber ebenso interessant. Zur Philipp-Schaeffer-Bibliothek gehören drei weitere Einrichtungen in der Köpenicker Straße, Karl-Marx-Allee und Leipziger Straße.

Kooperationspartner zu suchen, darin sieht Bibliothekarin Kerstin Berger, zuständig für die Öffentlichkeitsarbeit, ein wichtiges Anliegen. In den Monaten November und Dezember stellen sich zum Beispiel der junge Berliner Parthas Verlag mit Büchern zu den Themen Theater, Musik, Kunst, Kabarett und Film vor. Gleichfalls präsentieren sich der Jovis Verlag Berlin und der Verlag Springer Wien/NewYork. „Die Verlage nehmen gern diese Möglichkeit an, ihre Publikationen bekanntzumachen“, sagt Kerstin Berger. Den Nutzen haben beide Seiten. Nach Abschluß der Ausstellungen gehen die Bücher in den Bestand des Hauses über und können natürlich ausgeliehen werden. Partnerschaftsbeziehungen bestehen auch zur Kunsthochschule in Weißensee. In den Räumen der Bibliothek finden Meisterschüler ein Podium für ihre Arbeiten.

Was im Märchen - und nicht nur da - der Dachboden Geheimnisvolles für die Jüngsten bietet, ist hier im Keller zu entdecken. Kisten zum Kramen, lustige bunte Bilder, Spielzeug, kuschlige Ecken, in die sich manche gleich zum Schmöckern zurückziehen. Kinder und Jugendliche sowie junge Erwachsene sind ein wichtiges Zielpublikum der Bibliothek. Die allgemeine Erfahrung, daß nach dem Ende der Ausbildung das Interesse am Bibliotheksbesuch erst einmal nachläßt, kann hier nicht bestätigt werden. Der Anteil der Nutzer im Alter von 20 bis 45 Jahren liegt mit 54 Prozent über dem Durchschnitt. Mit ihren Anforderungen und Bedürfnissen Schritt zu halten stellt auch die Bibliothekare vor neue Herausforderungen.

Zwar bilden Bücher immer noch den Hauptbestand einer Bibliothek, aber der Anteil der neuen Medien wächst rasant. „Wir spüren, wie zunehmend Informationen digitalisiert werden, aber ein Teil der Bevölkerung ist davon abgeschnitten“, sagt Stefan Rogge. Viele Leute verfügen nicht über die entsprechenden technischen Geräte, oder ihnen fehlt das entsprechende Know-how. Hier sieht sich die Bibliothek als moderner Dienstleister gefragt. Dem Trend zu folgen heißt aber nicht, die Fülle der digitalisierten Informationsflut einfach weiterzugeben, sondern auszuwählen, die Informationen gewissermaßen „zu veredeln“, um Wissen zu vermitteln, das den Leuten tatsächlich nutzt.

„Bibliotheken“, so der Schriftsteller Günther Weisenborn, „sind die kostbarsten Monumente der Menschheit, gebaut aus nichts als zwei Dutzend Zeichen.“ Das wird in abgewandelter Form auch künftig so sein.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 12/00 (c) Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

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