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Heinrich Lange

Kants „ärmliches Sanssouci“

Zum Schicksal von Kants Wohn- und Sterbehaus in Königsberg

„Und so drang man durch eine ganz einfache, armselige Tür in das ebenso ärmliche Sanssouci, zu dessen Betreten man beim Anpochen durch ein frohes „Herein“ geladen wurde...“ So beginnt Kants 1786 von Jena nach Königsberg berufener Kollege Johann Gottfried Hasse (1759-1806), Professor der orientalischen Sprachen und der Theologie, in Merkwürdige Äußerungen Kants von einem seiner Tischgenossen (1804) die Beschreibung des Arbeitszimmers des Königsberger Philosophen.

Kant wohnte bis zu seinem Tode am 12. Februar 1804 zwanzig Jahre in einem eigenen Haus am Prinzessinplatz nahe des Schlosses. Das in seinen Ausmaßen wie seiner Ausstattung bescheidene Haus hatte er durch Vermittlung seines Freundes, des Oberbürgermeisters, Polizeidirektors und Schriftstellers Theodor Gottlieb von Hippel (1741-1796), erworben. Nach dem Zeugnis des ehemals in der Königsberger Stadtbibliothek in der Alten Universität aufbewahrten Kaufvertrages kaufte Kant das Haus am 30. Dezember 1783 für 5500 Gulden von der Witwe des Porträtmalers Johann Gottlieb Becker (1720-1782). Becker hatte Kant 1768 im Auftrag des Buchhändlers und Verlegers Johann Jacob Kanter (1738-1786) für dessen Buchladen im ehemaligen Löbenichtschen Rathaus, der zu einem Treffpunkt der Gelehrten der Stadt wurde, in Öl gemalt. Den genauen Zeitpunkt wissen wir durch einen Brief Johann Georg Hamanns (1730-1788) an Johann Friedrich Herder (1744-1803) vom 28. August 1768, in dem es heißt: „Kanter will diese Woche seinen Laden beziehen. In der Schreibstube des Ladens werden gemalte Köpfe sein, wovon er Moses (Mendelssohn) und Ramler von Berlin mitgebracht, und hier Scheffner, Willamow, Hippel, Lindner gesammelt. Auch Kant sitzt bereits.“ (Karl Heinz Clasen, Kant-Bildnisse, 1924) Im Kanterschen Hause hatte Kant wohl von 1768 bis mindestens 1774 gewohnt und gelehrt.

Das von der Nachfolgebuchhandlung Gräfe und Unzer 1945 in den Westen gerettete Ölporträt hängt jetzt im Schiller-Nationalmuseum in Marbach a. Neckar. Zuletzt war es eines der Glanzstücke der Ausstellung „Immanuel Kant und die Berliner Aufklärung“ in der Staatsbibliothek Berlin vom 29. März bis 13. Mai 2000. In dem gleichnamigen Begleitbuch ist allerdings, wie der Brief Hamanns belegt, die Datierung „um 1775“ unrichtig. Wie ein Foto im Archiv des Verlags Gräfe und Unzer in München zeigt, steht bzw. stand das richtige Datum auch auf der allerdings nachträglich unten an den Rahmen des Gemäldes angefügten Tafel, die in der Ausstellung fehlte. Zudem weist der Maler Eduard Anderson, Direktor des Stadtgeschichtlichen Museums, wo sich ein zweites, fast identisches Ölporträt aus dem Nachlaß Kants befand, in seinem Führer Das Kantzimmer im Stadtgeschichtlichen Museum Königsberg (Pr). Verzeichnis der Kant-Andenken ... (1936), der auch eine Reproduktion dieses Porträts enthält, auf die Entstehungszeit hin. Die Datierung der Beckerschen Porträts ist wichtig, da Kant als (44jähriger) Magister und nicht als Professor der Logik und Metaphysik (ab 1770) dargestellt ist.

Die Tafelrunde im Haus hinter dem Schloß

In dem Haus am Prinzessinplatz (später Prinzessinstraße, ab 1924 Kantstraße) hielt Kant - wie damals üblich - seine Vorlesungen und lud zu seiner berühmten Tafelrunde, die Emil Doerstling (1859-1940) 1892/93 auf dem Gemälde „Kant und seine Tischgenossen“ in poetischer Freiheit eines Historienmalers vergegenwärtigt hat. Bei dem in der Berliner Ausstellung als „Gemälde“ bezeichneten Bild aus „Privatbesitz“ handelt es sich allerdings nicht um das verlorene, von dem Kommerzienrat und Bankier Walter Simon (1857-1920), dem großen Mäzen der Stadt, in Auftrag gegebene Ölgemälde „Kants Tafelrunde“ im Treppenhaus der Alten Universität, sondern um einen kolorierten Stich des Malers nach diesem. Unter Kants Tischfreunden waren Männer aus den verschiedensten Berufen: Kollegen aller Fakultäten, Beamte, Pfarrer, Schriftsteller, Ärzte, Kaufleute und Offiziere.

Wie sein Tischgenosse Hasse mitteilt, kündete, wenn „man sich Kants Hause näherte ... alles einen Philosophen an. Das Haus war etwas antik, lag in einer zwar gangbaren, aber nicht viel befahrenen Straße und stieß mit der Hinterseite an Gärten und Schloßgräben sowie an die Hintergebäude des vielhundertjährigen Schlosses.“ Kants einstöckiges Haus mit Satteldach nordwestlich des Königlichen Schlosses zeigt anschaulich der Stahlstich von Carl Ludwig Frommel (1789-1863), der 1824 den Stahlstich aus London in Deutschland einführte. Der Stich vom Schloß mit dem Kanthaus soll um 1840 entstanden sein. Er könnte jedoch bereits vor 1836 datieren, da nach dem Besitzerwechsel um 1836 die Fassade umgestaltet und eine Gedenktafel angebracht wurde, welche hier noch fehlt. Jedenfalls handelt es sich um die früheste erhaltene Darstellung des Kanthauses.

In Kants Haus befanden sich unten der Hörsaal, die Küche und die Wohnung der Köchin, oben zur Straßenseite das Speisezimmer und das Besuchszimmer und zur Gartenseite das Schlafzimmer, die Bibliothek und das Arbeitszimmer; im Dachgeschoß lag die Wohnung des Dieners. „Trat man in das Haus, so herrschte eine friedliche Stille, und hätte einen nicht die offene und nach Essen riechende Küche, ein bellender Hund, oder eine miauende Katze, Lieblinge seiner Köchin (mit denen diese, wie Kant sagte, ganze Sermone hielt), eines anderen überzeugt, so hätte man denken sollen, dies Haus sei unbewohnt.“ Zu Kants Arbeitszimmer bemerkt Hasse weiter: „Das ganze Zimmer atmete Einfachheit und stille Abgeschiedenheit von Geräuschen der Stadt und Welt. Zwei gemeine Tische, ein einfaches Sofa und etliche Stühle, worunter sein Studiersitz war, und eine einfache Kommode unter einem mäßigen Spiegel ... Hier saß der Denker auf seinem ganz hölzernen Halbzirkelstuhle wie auf dem Dreifuß.“

Eine Pappel stört den Denker

Weil im Laufe der Jahre die Krone einer Pappel Kants gewohnten Blick zum Turm der Löbenichtschen Kirche verdeckte und ihn so beim Sinnieren störte, soll er den Nachbarn mit Erfolg zum Kappen des Baumes bewegt haben. Es war denn auch sein Verleger, der Buchhändler Matthias Friedrich Nicolovius (1768-1836), der noch im Todesjahr des Philosophen die zitierte Schrift von Hasse und die drei zeitgenössischen Kant-Biographien von Ludwig Ernst Borowski (1740-1831), Reinhold Bernhard Jachmann (1767-1843) und Ehregott Andreas Christoph Wasianski (1755-1831) herausgab.

Bei Nicolovius wurde auch Kants letztes großes, zu seinen Lebzeiten veröffentlichtes Werk, die Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, redigiert, bevor sie 1798 in Jena in Druck ging. In der Vorrede findet sich Kants Bewertung seiner Vaterstadt, in der er zu begründen scheint, warum er Königsberg nur selten und Ostpreußen nie verlassen hat: „Eine große Stadt, der Mittelpunkt eines Reichs, in welchem sich die Landescollegia der Regierung desselben befinden, die eine Universität (zur Kultur der Wissenschaften) und dabei noch die Lage zum Seehandel hat, welche durch Flüsse aus dem Inneren des Landes sowohl, als auch mit angrenzenden entlegenen Ländern von verschiedenen Sprachen und Sitten einen Verkehr begünstigt, - eine solche Stadt, wie etwa Königsberg am Pregelflusse, kann schon für einen schicklichen Platz zur Erweiterung sowohl der Menschenkenntnis als auch der Weltkenntnis genommen werden, wo diese, auch ohne zu reisen, erworben werden kann.“

In Kants Arbeitszimmer hing - als einziges Bild des Hauses - das Porträt des Philosophen Jean-Jacques Rousseau (1712-1778), ein Geschenk des Bankiers Ludwig Ruffmann. In dem Handexemplar der Schrift Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen (1764), das zu den verschollenen Beständen der Königsberger Staats- und Universitätsbibliothek gehört, hatte Kant angemerkt: „Rousseau verfährt synthetisch und fängt vom natürlichen Menschen an, ich verfahre analytisch und fange vom gesitteten an.“

Hier in dem „ärmlichen Sanssouci“ entstand die überarbeitete, 1787 in zweiter Auflage erschienene Fassung seines Hauptwerkes, der Kritik der reinen Vernunft (Erstdruck 1781), und ein großer Teil seiner Werke: die Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785) und die Kritik der praktischen Vernunft (1788), in der er den „kategorischen Imperativ“ wie folgt formuliert: „Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.“ Kants Handexemplar dieser Kritik wird im Archiv der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg aufbewahrt. Das Handexemplar der Kritik der reinen Vernunft, das in den zum Westflügel gehörenden herzoglichen Räumen des Königsberger Schlosses mit der Schausammlung der Staats- und Universitätsbibliothek (Raum 12) ausgestellt war, scheint hingegen verloren.

Kant und die Berlinische Monatsschrift

Weiter schrieb Kant hier die Kritik der Urteilskraft (1790) und die Aufsätze für die von 1783 bis 1796 erscheinende „Berlinische Monatsschrift“, ein Hauptorgan der Aufklärung. Der bekannteste Aufsatz ist der mit dem für die Aufklärung programmatischen Titel „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“ Hier fordert der Philosoph: „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ Und er mahnt: „Es ist so bequem, unmündig zu sein. Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat, einen Arzt, der für mich die Diät beurteilt usw.: so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen. Ich habe nicht nötig zu denken, wenn ich nur bezahlen kann; andere werden das verdrießliche Geschäft schon für mich übernehmen.“ Weiter erschienen in dieser Zeitschrift die Aufsätze „Was heißt: Sich im Denken orientieren?“ (1786), „Über das radikal Böse in der menschlichen Natur“ (1792) oder der infolge des Religions- und Zensuredikts von 1788 verbotene „Vom Kampf des guten Prinzips mit dem bösen um die Herrschaft über den Menschen“ (1792). Schließlich seien hier noch Kants Schrift Zum ewigen Frieden - ein philosophischer Entwurf (1795), Die Metaphysik der Sitten (1797) und der geschichtsphilosophische Aufsatz Erneuerte Frage: Ob das menschliche Geschlecht im beständigen Fortschreiten zum Besseren sei (1797), durch den Kant erneut mit der Zensurbehörde in Konflikt geriet, genannt.

Was die Originalmanuskripte von Kants Werken betrifft, so ist neben der nahezu vollständig erhaltenen Handschrift der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht in der Universitätsbibliothek Rostock auf das in der Berliner Ausstellung vorgestellte sogenannte Opus postumum, Kants nachgelassenes Alterswerk, hinzuweisen. Am 30. Juni 2000 ging das aus Hamburger Privatbesitz erworbene, seit 1995 als Leihgabe im Besitz der Stiftung Preußischer Kulturbesitz befindliche und zur Aufbewahrung der Handschriftenabteilung der Staatsbibliothek zu Berlin übergebene Manuskript als bisher teuerstes und wertvollstes in das Eigentum der Bundesrepublik Deutschland über. Mit diesem unvollendeten Werk wollte Kant „sein kritisches Geschäft beschließen“. Kant selbst führt in dem umfangreichen Manuskript, in dem er sich überwiegend mit der Begründung der empirischen Wissenschaften beschäftigt, aber auch andere Fragestellungen seiner kritischen Philosophie wieder aufnimmt, als Probetitel „Übergang von den metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft zur Physik“. Bis auf wenige Fragmente sind alle anderen Handschriften zu den gedruckten Werken, so auch die der drei Kritiken, verloren.

Zeichnerische Rekonstruktion des Hauses

Das 1917 vom Berliner Architekturverlag Der Zirkel in der Wilhelmstraße herausgegebene Büchlein von Walter Kuhrke Kants Wohnhaus. Zeichnerische Wiederherstellung mit näherer Beschreibung, das 1924 in einer Neuauflage bei Gräfe und Unzer für 1 Mark „mit 10 Textillustrationen. Pappband mit Umschlag“, wie es in der Verlagsanzeige heißt, erschien, ist in der Staatsbibliothek Berlin noch in jeweils einem Exemplar der beiden Ausgaben vorhanden. Der Königsberger Architekt konnte für diese Schrift als Quellen noch Auskünfte der Vorbesitzer und die Grundbuchakten des Amtsgerichts heranziehen. Kants Haus vertrat in der Berliner Ausstellung nur ein Holzstich aus der „Illustrierten Zeitschrift“ von 1844. Bei dem auffälligen, aber nur schwer identifizierbaren turmartigen Gebäude links im Hintergrund handelt es sich um die zu dieser Zeit gerade im Bau befindliche, noch eingerüstete Altstädtische Kirche in neugotischem Stil nach dem Entwurf von Karl Friedrich Schinkel (1781-1841).

Die interessante Vorgeschichte des Grundstücks und Hauses hat der Chronist Karl Gustav Springer in seiner 1924 unter dem Pseudonym „G. Karl“ erschienenen Schrift Kant und Alt-Königsberg durch Archivstudien recherchiert. Das Haus selbst stammt offenbar noch aus dem Ende des 17. Jahrhunderts.

Schadow-Schüler modelliert Kantbüste

In Kants Haus fertigte 1801 der von seinem Meister Johann Gottfried Schadow (1764-1850) nach Königsberg gesandte Bildhauer Carl Friedrich Hagemann (1773-1806) das Modell für die später in Berlin ausgearbeitete Marmorbüste des Philosophen. Ein Gipsabguß des seit 1948 verschollenen, zuletzt im Senatszimmer der Königsberger Universität stehenden und 1945 noch aus dem Schutt geretteten Originals befindet sich in der Porträtsammlung der Berliner Staatsbibliothek.

Erstmals konnten in der Ausstellung zwei besondere, vom Verfasser im vorigen Jahr in der Berliner Charité ausfindig gemachte Kantiana vorgestellt werden: die Totenmaske Kants von 1804 und der 1880 bei der Umbettung der Gebeine des Philosophen angefertigte Abguß des Schädels (Berlinische Monatsschrift 4/1999 und 9/1999). Andreas Knorre (1763-1841), Professor für Malerei an der Königsberger Kunstschule, nahm nach Kants Tod die Totenmaske von der bis zur Beisetzung am 28. Februar im Speisezimmer, dem größten Raum des Hauses, aufgebahrten Leiche in Gips ab. In Nachbesserung zu den Ausführungen in der Berlinischen Monatsschrift 4/1999 läßt sich jetzt festhalten, daß es vier Originalabgüsse der Totenmaske gab: im Königsberger Staatsarchiv, im Prussia-Museum, in der Universitätsbibliothek von Dorpat und im Anatomischen Museum in Berlin. Nach den Kriegsverlusten in Königsberg existieren heute nur noch der 1980 von sowjetischer Seite bekannt gemachte Abguß in Dorpat, heute Tartu in Estland, und der in Berlin. Da bei ersterem ein großer Teil der Schädelkalotte fehlt, ist der Berliner Abguß der Totenmaske der einzig noch vollständig erhaltene. Bei den Exemplaren im Museum Stadt Königsberg in Duisburg und im Universitätsmuseum in Kaliningrad handelt es sich um modern ergänzte Abgüsse der Tartuer Kopfmaske aus dem Jahre 1980.

Als besondere Kostbarkeit war in der Berliner Ausstellung das ins Geheime Staatsarchiv Berlin gelangte Kneiphöfische Kirchenbuch mit dem Sterbeeintrag Kants zu sehen. Hier heißt es: „Der Professor Immanuel Kant starb am 12t Febr. 1804 mittags um 11 Uhr 79 Jahr 10 Monate alt an eigentlicher Entkräftung, begraben am 28.ten Febr. im Professorengewölbe.“ Aus dem Kirchenbuch geht hervor, daß Kant nicht in der Prinzessinstraße, wie allgemein angegeben, sondern am Prinzessinplatz wohnte.

Auch der Nachruf der Philosophischen Fakultät auf Kant vom 18. Februar 1804 war in einem dicken, in Leder gebundenen und mit Schließen versehenen Buch der Universität, das es ins „Archiwum Panstowe“ in Olsztyn in Polen, das frühere Allenstein in Ostpreußen, verschlagen hat, zu bestaunen. Wie weitere, bisher unbekannte Archivalien aus diesem Staatlichen Archiv in der Ausstellung zeigten, so aus dem Jahre 1786, als Kant Rektor der Universität war, sind dort offenbar im Krieg ausgelagerte Bestände der Königsberger Staats- und Universitäts-Bibliothek verwahrt.

„Verkauft an einen Kaffetier ...“

Kants Wohn- und Sterbehaus - sein Eltern- und Geburtshaus in der Vorderen Vorstadt Nr.22 mußte bereits 1740 einem Neubau weichen - wurde bald nach seinem Tode, wie auch der größte Teil der Ausstattung und der persönlichen Dinge, auf einer Nachlaßauktion versteigert. Der Kaufmann Johann Christoph Richter (1768-1853), der damals in den Schloßkellern mit Johann Koch einen offenen Weinhandel und später mit der Witwe des aus Salzburg stammenden David Schindelmeißer die berühmten Weinstuben und Weinlager „Blutgericht“ betrieb, erwarb das Haus und verkaufte es gleich an den Gastwirt Johann Ludwig Meyer weiter. Der Wirt erwarb auch das sich im Besitz Kants befindliche zweite Ölporträt von Becker. Kants Bibliothek - ca. 400 Bücher - erbte der Bibliothekar Johann Friedrich Gensichen (1759-1807). Der übrige Nachlaß wurde in alle Winde zerstreut. Am 21. Juli 1804 meldete die „Zeitung für die elegante Welt“ in Leipzig: „Kants Haus ist verkauft, verkauft an einen Kaffetier. Unter all den wohlhabenden, reichen und sehr reichen Bewohnern meiner Vaterstadt fand sich auch nicht Einer, der das Andenken des Weisen durch den Ankauf und edlern Gebrauch dieses Hauses geehrt hätte; der ... die geringe Summe, für die das Haus verkauft wurde, daran gewagt hätte, dem Landsmanne, um den bessere Zeiten uns beneiden und immer beneiden werden, ein Denkmal zu errichten ... Jetzt klirren Biergläser, tönen bacchantische Gesänge aus dem Saale, aus eben dem Saale, den Jünglinge und Männer sonst mit Ehrfurcht betraten, und er ist besuchter als je!!! ... Über der Thüre des Hauses steht, statt einer Marmortafel mit den Worten: Hier lebte Kant: Au Billiard royal - und niemand ahnet oder ahndet die Schmach dieser Entheiligung!“

Hier sei jedoch daran erinnert, daß Kant als Student zu seinem Lebensunterhalt - neben Repetitorstunden für jüngere Studenten - nicht geringe Mittel durch das Billardspiel verdiente. Noch als Magister und Professor soll er vor der Führung eines vollständigen Haushalts 1787 in Gasthäusern und Kaffeehäusern nach dem Essen bzw. Tee und dem Studium der Zeitungen Karten oder eine Partie Billard gespielt haben. Auch trafen sich in der im ehemaligen Hörsaal eingerichteten Gastwirtschaft von 1805 bis 1809 die Freunde Kants alljährlich an seinem Todestage zum Gedächtnismahl, die Versammlung der Freunde Kants, aus der 1810 die „Gesellschaft der Freunde Kants“ hervorging.

Gedenktafel am Haus

1836 erwarb der Regierungsrat Karl Friedrich Schaller in Berlin das Kanthaus in einer Zwangsversteigerung für 130 Taler und verkaufte es schon am Tage darauf für 2900 (!) Taler an den Zahnarzt Karl Gustav Doebbelin weiter. Dieser restaurierte das Haus und brachte eine Gedenktafel aus dunkelgrauem Marmor an, deren Inschrift mit kleineren Abweichungen zitiert wird. Sie lautet wohl korrekt: „Immanuel Kant / wohnte und lehrte hier / von 1783 bis 12. Febr. 1804.“ Auf dem Titelbild von Andersons Museumsführer, das einen Blick ins Kantzimmer gewährt, ist „diese Marmortafel mit vergoldeten, eingemeißelten Buchstaben“ am Fuße des Postaments mit der Marmor-Nachbildung der Hagemannschen Kant-Büste von Rudolf Siemering (1835-1905) um 1880 auszumachen. Hier erfahren wir zudem, daß die Rückseite der Platte die Fassung: „Emanuel Kant wohnte und lehrte hier.“ getragen hat. Mit der Tafel über dem Eingang zeigt das Haus ein im Führer reproduziertes Bild, „1845 nach der Natur gezeichnet und lithographiert von F. Bils“. Eine nach diesem Original im Kant-Museum angefertigte kolorierte Lithographie im Museum Stadt Königsberg in Duisburg, die in dem neuen, von Walter Daugsch bearbeiteten und Lorenz Grimoni herausgegebenen Katalog Museum Stadt Königsberg in Duisburg. Dokumentation zur Geschichte und Kultur einer europäischen Stadt (1998), in einer Farbabbildung wiedergegeben ist, geht hier aber mit der Datierung „1820“ und der Zuschreibung „Unbekannter englischer Stecher wohl nach W. Barth“ (Wilhelm Barth, 1779-1852) fehl.

„Gedenktafeln an Privathäusern anzubringen, war“ in jener Zeit, so Fritz Gause (1893-1973), Leiter des Stadtarchivs und Direktor des Stadtgeschichtlichen Museums von 1938-1945, in Kant und Königsberg (1974) „Sache von Privatleuten. Öffentliche Mittel wurden für Kulturpflege nicht verwandt.“ „Es war damals Sache des bildungsfreudigen Bürgertums, große Männer mit Denkmälern zu ehren, die Künstler auszuwählen und - nicht zuletzt - die nötigen Geldmittel aufzubringen.“

Kant-Museum

Karl Rosenkranz (1805-1879), 1833 auf den Lehrstuhl für Philosophie nach Königsberg berufen und mit Friedrich Wilhelm Schubert Herausgeber von Kants Werken (Kant's sämmtliche Werke 12 Bde., Leipzig 1838-1842) war damals der eifrigste Verfechter für die Einrichtung eines Kant-Museums im ehemaligen Kant-Haus. In seinen 1842 in Danzig erschienenen Königsberger Skizzen heißt es dazu: „Man hätte dies Haus für die Universität kaufen und dem jedesmaligen Inhaber des philosophischen Lehrstuhls als Freiwohnung geben sollen ... In diesem Hause hätte man ein Zimmer dazu arrangiren sollen, die Werke Kant's in allen Ausgaben, seine als Manuscript nachgelassenen Schriften und Briefe, die Uebersetzungen seiner Werke in fremde Sprachen, die Schriften über Kant'sche Philosophie, genug, eine Bibliotheca Kantiana, außerdem eine Büste Kant's, alle Bildnisse und Reliquien von ihm, z. B. seinen Zopf und Spazierstock, ... aufzustellen.“

Ludwig Goldstein (1867-1943), Chef des Feuilletons der „Königsberger Hartungschen Zeitung“, ruft 70 Jahre später - das Haus ist inzwischen verschwunden - in seinem Beitrag „Königsberger Kantstätten“ in der Monatsschrift „Der Osten“ vom Oktober 1912 das Engagement von Rosenkranz in Erinnerung. Als Goldstein bedauerte: „Nun ist alles verzettelt, und Antiquare, die Altertumsgesellschaft, die Königliche Bibliothek und wohl auch Private teilen sich den Besitz, soweit er überhaupt noch vorhanden ist“, konnte er nicht ahnen, daß nun doch in naher Zukunft ein solches Museum, wenn auch nicht mehr in Kants Haus, verwirklicht werden würde. 1917 erhoffte aber solches Kant-Verehrer Kuhrke: „Wenn nun auch dieses Gebäude in Wirklichkeit nicht mehr wiederherzustellen ist, so möge doch an würdiger Stelle unserer Haupt- und Residenzstadt, wenn die Friedensglocken wieder geläutet haben, einst ein neues ,Kant-Haus‘ entstehen, welches liebevoll all die wertvollen Andenken aufnimmt, die uns jener große Meister hinterließ.“ 1924 schreibt dann Carl Gustav Springer: „Wer das Goethehaus in Weimar kennt, weiß auch, wie das Kanthaus hätte verwendet werden müssen, nämlich als Kantmuseum. Einen notdürftigen Ersatz hat man, unserer ... Anregung entsprechend, ganz neuerdings durch das Kantzimmer in der alten Universität geschaffen.“

Nach diesem zu Kants 200. Geburtstag in der zur Stadtbibliothek gewordenen Alten Universität provisorisch eingerichteten Kantzimmer wurde 1928 ein solches in dem zum Stadtgeschichtlichen Museum gewordenen Kneiphöfischen Rathaus geschaffen. Die Fülle der größtenteils einzigartigen Kantiana, vom Hut bis zu den Schuhen, von der Schnupftabakdose bis zum silbernen Eßlöffel, von der Tischglocke bis zur Schreibkommode, von Kants frühestem Brief bis zu seinem letzten Federstrich, von seinem Jugendbild bis zur Totenmaske usw., trugen Museumsdirektor Eduard Anderson (1873-1947) und ab 1938 sein Nachfolger Fritz Gause in zuletzt vier Zimmern (ab 1938 Kant-Museum) zusammen. Nach Andersons Verzeichnis von 1936 befand sich hier auch ein Ölgemälde „Kants Wohnhaus und seine Umgebung 1840“ von „Zeichenlehrer Bernhardt“ und ein „Modell des 1893 abgebrochenen Kanthauses, verkleinert und in Pappe ausgeführt von Blaha nach Kuhrke“. Was vom nach dem Tode Kants „in alle Winde“ verstreuten Nachlaß „später an Bildern und Büchern, Möbeln und Kleidung mit viel Mühe wieder zusammengebracht worden und seit 1928 im Kantmuseum im kneiphöfischen Rathaus ausgestellt war“, so Fritz Gause in seiner Geschichte der Stadt Königsberg in Preußen von 1968, „ist im zweiten Weltkriege vernichtet worden“.

Kant-Denkmal von Rauch

1864 wurde am Kantberg hinter Kants Garten mit Blick zum Altstädtischen Kirchenplatz das Kant-Denkmal mit der bis 1855 von Christian Daniel Rauch (1777-1857) modellierten und 1857 bei Hermann Gladenbeck in Berlin-Friedrichshagen gegossenen Statue auf rotem Granitsockel vor einer Halbrundmauer mit Rundbögen nach dem Entwurf von Friedrich August Stüler (1800-1865) aufgestellt. 1885 mußte das Denkmal der Freilegung des Schlosses und der Anlage der Schloßstraße weichen. Das Standbild fand nun auf dem Paradeplatz südwestlich vor der 1843-1862 von Stüler erbauten Neuen Universität Aufstellung. Das seit 1945 verschollene Original wurde, wie Marion Gräfin Dönhoff zuletzt in einem Leserbrief an „Das Ostpreußenblatt“ vom 6. April 1996 mitteilte, nach Schloß Friedrichstein bei Königsberg ausgelagert und dort von ihr „auf Wunsch des Königsberger Kulturbetreuers im Herbst 1944 ohne Sockel ... in Empfang genommen und im Park an sicherer Stelle aufgestellt“. Am 27. Juni 1992 wurde auf Initiative der Gräfin und der ZEIT-Stiftung vor dem weitgehend verändert aufgebauten Gebäude der ehemaligen Neuen Universität wieder eine Statue Kants aufgestellt. Der alte Sockel war noch vorhanden, wenn auch in den Norden der Stadt (Maraunenhof) versetzt und mit einer Büste Ernst Thälmanns ausgestattet. Die 1991 im Atelier des Berliner Bildhauers Harald Haacke entstandene und bei Hermann Noack in Berlin-Friedenau gegossene Statue ist eine Nachbildung nach einem von Martin Sperlich, dem ehemaligen Direktor der Staatlichen Schlösser und Gärten in Westberlin, in der Gipsformerei der Staatlichen Museen in Charlottenburg aufgefundenen kleinen Gipsmodell, das Rauch für das Königsberger Kant-Denkmal (1848-1855) anfertigte und das weitgehend mit der späteren, überlebensgroßen Figur übereinstimmt.

Kaufhaus statt Kanthaus

1881 verkauften Doebbelins Erben das mittlerweile durch mehrfache Umbauten im Innern veränderte und in eine Häuserzeile eingegliederte Haus, in welchem zuletzt Kaufläden mit Schaufenstern eingerichtet wurden, an die benachbarte Firma Bernhard Liedtke. 1893 aber wurde das Haus, dessen Straßenfront gegenüber den Nachbarhäusern vorsprang, als Verkehrshindernis angesehen und gegen den Widerstand nur weniger Stimmen, die es als Gedenkstätte erhalten wollten, abgerissen und hier ein Erweiterungsbau des Liedtkeschen Warenhauses errichtet. Fotografien in Adolf Böttichers Die Bau- und Kunstdenkmäler in Königsberg von 1897 zeigen die Straßen- und Gartenansicht des Hauses vor dem Abbruch neben dem Stammhaus der Firma.

Nach dem Abbruch des Kanthauses kamen die Gedenktafel und die Haustür bzw. einer der Türflügel aus dem 18. Jahrhundert ins Prussia-Museum im Schloß. Dort befanden sich bereits andere Ausstattungsstücke des Hauses, so die auf der Nachlaßauktion erworbene Schreibkommode aus Nußbaum, die wie die Gedenktafel von 1928 bis zuletzt im Kantzimmer des Stadtgeschichtlichen Museum stand. Fritz Gause urteilt über den Abriß des Kanthauses 1968: „Der größte Verlust war der Abbruch von Kants Wohnhaus ... Zwar war das Haus durch Umbauten verschandelt worden, aber es hätte sich in den alten Zustand bringen und als Gedenkstätte herrichten lassen, wenn man es nur gewollt hätte. Leider triumphierte der Geschäftssinn einer Firma, die ihr Kaufhaus vergrößern wollte, über das Gebot der Pietät.“

Am Neubau des Kaufhauses Liedtke war aber noch bis zuletzt eine neue „Kant-Tafel“ angebracht. Kuhrke erwähnt sie 1917: „Wandern wir durch die Prinzessinstraße unserer alten ostpreußischen Haupt- und Residenzstadt Königsberg, so bemerken wir kaum erkennbar über den großen Glasschildern eines Kaufhauses eine kleine Tafel ...“ Daß sich die Tafel mindestens seit 1912 dort befunden hat, geht aus ihrer Erwähnung bei Goldstein hervor: „Aber wer von den Tausenden, die dort täglich vorüberhasten, bemerkt dieses bescheidene Denkmal der Pietät?“ Allein in Wilhelm Lombers Schrift Immanuel Kants letzte Lebensjahre und Tod (1923) findet sich eine genauere Beschreibung: „Noch heute erblickt man ... zwischen zwei nach dem südlichen Ausgange der Straße zu gelegenen Schaufenstern im ersten Stock des Geschäftshauses Bernhardt Liedtke eine schwarze, viereckige Metalltafel mit der Inschrift ...“ Möglicherweise wurde sie bereits 1904 zum 100. Todestags Kants angebracht, als von der Stadt an der Zyklopenmauer rechts vom Westeingang des Königsberger Schlosses zur späteren Kantstraße hin die bekannte Kant-Tafel mit dem populär gewordenen schönen Satz aus dem Kapitel „Apotheose der Pflicht“ in der Kritik der reinen Vernunft enthüllt wurde: „Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: Der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir.“

Im Gegensatz zu dieser vielfach abgebildeten Tafel erscheint die Gedenktafel am Liedtkeschen Kaufhaus offenbar nur auf einer sehr seltenen Ansichtskarte der Sammlung des Verfassers mit der Legende „Blick aus dem Orientalischen Kaffee-Salon der Konditorei Kurt Gehlhaar, Kbg. i. Pr. auf die Kant-Tafel“. Es ist eine - wie auch der mit „Weltversand des echten Königsberger Marzipans“ übertitelte Werbetext auf der Rückseite zeigt - von der renommierten „Konditorei und Marzipanfabrik Kurt Gehlhaar“ beim „Verlag Alb. Walsdorf, Königsberg“ gedruckte Karte. Da die „Junkerstr.“ und die „Kantstr.“ genannt sind, kann die ungestempelte Karte nicht vor 1931 entstanden sein, als Gehlhaar sein Unternehmen durch den Neubau in der Kantstraße erweiterte. Das besondere Augenmerk der Ansichtskarte gilt der Gedenktafel am Haus gegenüber. Für die Fotografie ist das Schiebefenster geöffnet, so daß die Inschrift deutlich zu lesen ist: „An dieser Stelle stand das Haus in welchem Immanuel Kant wohnte und lehrte von 1783-1804.“


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 12/00 (c) Edition Luisenstadt, 2000
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