Eine Rezension von Horst Klein


Von den Seinen bedrängt, von den Anderen gewürdigt ...

Ulla Plener: Theodor Leipart
Persönlichkeit, Handlungsmotive, Wirken, Bilanz.
Ein Lebensbild in Dokumenten (1867-1947).
Halbband: Biographie.
trafo verlag, Berlin 2000, 392 S.

In der Reihe „Biographien europäischer Antifaschisten“ erschien als Bd. 5 der 1. Halbband des von Ulla Plener verfaßten Lebensbildes über den wohl nicht nur zu seiner Zeit namhaftesten deutschen Gewerkschaftsführer Theodor Leipart. Es gehört zur Ironie der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, daß sich heute beinahe nur noch Insider seiner erinnern.

Die Erklärung liegt in der Geschichte selbst, aber vielmehr im Umgang mit ihr. Von „den Seinen“ bedrängt, von „den Anderen“ gewürdigt, so das Fazit der Autorin nach einer umfassenden Erforschung und Darstellung dieser Persönlichkeit, die in der SED-Geschichtsschreibung einerseits ihren Platz unter den verfemten reformistischen Gewerkschaftsführern (Opportunisten) zugewiesen bekam, die sich andererseits zumindest kurzzeitig auch pragmatisch für die vermeintliche „Einheitspartei“ beanspruchen ließ. Der Vorstand der SED zeigte sich 1946/47 noch tolerant, den einstigen Vorsitzenden des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes (ADGB) als großen Arbeiterführer und Sozialisten zu ehren. 1947 bekam die Hochschule des FDGB in Bernau seinen Namen verliehen, der dann 1952 durch den Namen des kommunistischen Gewerkschaftsführers Fritz Heckert (1884-1936) ersetzt wurde. „Mit der fortschreitenden Stalinisierung der SED“, so vermerkt Ulla Plener kritisch, „wurde die sozialdemokratische Tradition in ihr zunehmend vernachlässigt und eliminiert - dazu gehörte auch die Erinnerung an einen Theodor Leipart, dessen Name in der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung unauslöschlich bleiben sollte, immer mehr verblaßte und schließlich ganz verdrängt wurde.“ Indessen habe die SPD Leiparts SED-Beitritt und die Haltung des Gewerkschaftsvorstandes zu den Vorgängen um den 1.Mai 1933, für die sie Leipart zu Unrecht verantwortlich machte, nicht tolerieren wollen. Dieser hatte am 29. März 1933 Hitler brieflich die Trennung der Gewerkschaften von der SPD mitgeteilt. Am 19. April 1933 empfahl der Vorstand des ADGB seinen Mitgliedern die Teilnahme an den von den Nazis verordneten staatlichen Maifeiern. Es war damals eine fatale Situation, die die Historikerin Helga Grebing auch im Hinblick auf sozialdemokratische Illusionen mit den Worten zu charakterisieren versuchte: Man glaubte, „durch politischen Selbstmord den organisatorischen Tod zu verhindern“. Doch das nützte nichts. Es folgten nach der Zerschlagung der KPD auch die der SPD und des ADGB und so auch der Leidensweg für Leipart.

Ulla Plener hat für die Beschreibung des Lebensbildes Theodor Leiparts sehr tief in die Archive geschaut und bisherige Darstellungen zum Leben und Wirken dieses außergewöhnlichen Gewerkschaftsführers kritisch hinterfragt und ihre gewonnenen Kenntnisse mit Dokumenten belegt, die demnächst auch geschlossen als 2. Halbband erscheinen sollen. Bei der Bewertung Leiparts hält sie sich an den von Friedrich Engels übermittelten Grundsatz, wonach ein „Mann, der jeden Philosophen nicht nach dem Bleibenden, Fortschrittlichen seiner Tätigkeit, sondern nach dem notwendig Vergänglichen, Reaktionären, nach dem - System beurteilt, ... besser geschwiegen“ hätte. Sie fragt nach dem Bleibenden, sie mißt Leipart an seinen geschichtlichen Leistungen, ohne dessen Irrwege und zweifellos auch schwerwiegenden Fehlentscheidungen zu verschweigen. Indessen versteht sie es, dem Leser wenig Bekanntes verständlich und vor allem im überwiegend schwierigen sozialen Zusammenhang nahezubringen. Im Mittelpunkt bleibt das für die sozialistische Bewegung zu Bewahrende.

Theodor Leipart, der am 17. Mai 1867 in Neubrandenburg geboren wurde, ging den Weg der Volks- und Mittelschule, erlernte das Drechslerhandwerk. Er wurde Mitglied der Sozialdemokratischen Partei und engagierte sich für die gewerkschaftlichen Interessen. „Seit 1887 bekleidete er gewerkschaftliche Funktionen, seit 1891 hauptamtlich, war 1891-1893 Vorsitzender der Drechsler-Vereinigung, 1893-1908 zweiter, 1908-1919 erster Vorsitzender des deutschen Holzarbeiter-Verbandes (DHV), 1904-1919 zugleich Sekretär der von ihm initiierten Internationalen Union der Holzarbeiter (IUH), 1921-1933 Vorsitzender des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes (ADGB, einer der Vorläufer des DGB), 1922-1933 außerdem Vizevorsitzender des Internationalen Gewerkschaftsbundes (IGB).“

Kurzzeitig war er 1919/20 auch württembergischer Minister für Arbeit.

Ulla Plener sieht sich, wenn es um ein Festmachen des Bleibenden geht, im Konsens mit dem Historiker Hans Mommsen, der dieses bereits 1977 so beschrieben hat: „,In allen wesentlichen Punkten ist das sozialstaatliche Instrumentarium der Bundesrepublik während der Weimarer Zeit entwickelt oder institutionalisiert worden. Das gilt für das Arbeits- und Tarifvertragsrecht, das System der Arbeitslosenversicherung, die Arbeitsschutz- und Arbeitszeitregelungen wie den Komplex der Betriebsverfassung‘; wenn auch das System der Weimarer Sozialpolitik ein Torso geblieben sei, eine Fülle sozialpolitischer Maßnahmen von bleibender Bedeutung sei realisiert worden - und: ,Vergleicht man das, was während jener 14 krisenhaften Jahre der Weimarer Republik, die unter denkbar ungünstigen ökonomischen Bedingungen standen, auf sozialpolitischem Gebiet getan worden ist, mit den entsprechenden Maßnahmen in den mehr als zweieinhalb (und nunmehr fünf - U. Pl.) Jahrzehnten bundesrepublikanischer Entwicklung, so ergibt sich für Weimar eine bemerkenswert positive Bilanz ...‘“ Ulla Plener hebt hervor, daß diese positive Bilanz und das heute noch bestehende sozialstaatliche Instrumentarium auf das engste mit dem Wirken von Theodor Leipart verbunden ist. Dazu gehören auch „so unterschiedliche Dinge wie die Volksfürsorge, die Mitbestimmung und die Gemeinwirtschaft (auch die heutige Bank für Gemeinwirtschaft) ...“

Fragt man nach den besonders brisanten bzw. strittigen Themen, die das politische Denken und Wirken Leiparts prägten und die auch mit neueren Erfahrungen so oder so zur Diskussion anregen, dann findet man in der vorliegenden Biographie leicht Zugang zu grundsätzlichen Interessensgebieten der Arbeiterbewegung, wie u. a. zur Problematik des politischen Massenstreiks, des Ersten Weltkrieges und der Wirtschaftsdemokratie.

Ein Problem, das Leiparts gewerkschaftliches Engagement begleitet hat, so U. Plener, sei das Verhältnis der freien Gewerkschaften zur Sozialdemokratischen Partei gewesen. Den Gewerkschaften hat man bereits, ausgehend vom Erfurter Programm, eine „dienende Rolle, die ,Rekrutenschule‘ für die Partei zu sein, zugewiesen“. Leipart habe „für die Erkenntnis und Akzeptanz der selbständigen Rolle der Gewerkschaften im Emanzipationskampf der Arbeiterklasse“ gestritten. Ebenso habe sich August Bebel stets dafür ausgesprochen, daß die Gewerkschaften als spezifische Arbeiterorganisationen zu begreifen seien, die selbständig und weltanschaulich wie parteipolitisch neutral, aber nicht unpolitisch sein sollten; vielmehr sollten sie Arbeiterpolitik, Klassenkampfpolitik betreiben. Wie schwierig das Verhältnis zueinander zu bestimmen war, habe sich dann auch in der Debatte über den politischen Massenstreik in den Jahren 1905/06 gezeigt. Der politische Massenstreik sollte nach der Beschlußlage des Amsterdamer Sozialistenkongresses 1904 ein äußerstes Mittel sein, um bedeutende gesellschaftliche Veränderungen durchzusetzen oder sich reaktionären Anschlägen auf die Rechte der Arbeiter zu widersetzen. Leipart habe - ähnlich wie Engels - Jahre zuvor aus „Gründen der Humanität“ Gewalt (in Form von Straßenkämpfen u.ä.) als ein Mittel der Arbeiterschaft abgelehnt, dagegen auf „Organisation und die ,langsame Arbeit der Propaganda“ gesetzt. Indessen habe er allerdings im Unterschied zu Engels „die gestaltende Kraft des sozialen Zwanges, den machtvolle Aktionen (z. B. friedliche Demonstrationen) der vielen auf die Regierenden (und das Massenbewußtsein) auszuüben vermögen“, unterschätzt. Ulla Plener bemüht sich gekonnt, den politischen Zwiespalt im Umgang mit der Problematik des politischen Massenstreiks aufzuhellen, und sie macht deutlich, daß es sich hier nicht nur um einen Standpunkt Leiparts oder gar der „opportunistischen“ Gewerkschaftsführer handelte, sondern um eine Position, die in der von Bebel geprägten revolutionären Arbeiterbewegung mehrheitlich geteilt wurde.

Aus dieser Sicht kann der Leser am Beispiel Leiparts und seiner engeren Kampfgefährten in SPD und Gewerkschaften den politischen Denkprozeß im Umgang mit der Frage des Massenstreiks nachvollziehen und erkennen, wie sehr diese auch mit all den bekannten Konsequenzen 1914 zur Politik des „Burgfriedens“ führte. Die Abstinenz im Verhältnis zum Massenstreik und die Haltung zur Vaterlandsverteidigung waren, wie nachgewiesen wird, in der Vorkriegspolitik von SPD und Gewerkschaften angelegt gewesen. Dabei spielte die Jahrzehnte zuvor gewachsene Furcht vor dem reaktionären Rußland und die Ansicht, Deutschland sei in diesem Krieg der von Rußland angegriffene Teil, eine entscheidende Rolle, die auch Leiparts Haltung zum Krieg bestimmte. Leipart - wie Legien und andere - habe, so Plener, es als die wichtigste Aufgabe der Gewerkschaften im Krieg betrachtet, „die Arbeiterklasse vor dem damit verbundenen Elend möglichst zu schützen. Es sei nicht zuletzt der wirtschaftliche Aspekt und die Sorge um die gewerkschaftliche Organisation gewesen, die motivierend für Leiparts ,Unterstützung der Kriegsziele des kaiserlichen Deutschland‘ und des ,Durchhaltens bis zum Siege‘ “ gewirkt haben. Dem habe auch die Überzeugung entsprochen, die „Niederlage würde zur Verelendung der deutschen Arbeiterschaft führen und damit ihre zivilisatorische Emanzipation - das erklärte Ziel der gewerkschaftlichen Tätigkeit - hemmen, das auf diesem Weg Erreichte zunichte machen“. Das Ausleuchten von Zusammenhängen und Hintergründen der wirklichen Geschichte, dem kann sich der Leser nur schwerlich entziehen, führt zu Einsichten in den Irrsinn der Geschichtslegenden über den vermeintlichen „Verrat“ der SPD- und Gewerkschaftsführer 1914.

Die Leipart-Biographie lenkt die Aufmerksamkeit u. a. auch auf das in der Zeit der Weimarer Republik in den Gewerkschaften gewachsene Konzept der Wirtschaftsdemokratie und auf die damit zusammenhängende Frage nach den Chancen einer Politik der Sozialisierung. Die Idee der Wirtschaftsdemokratie prägte, so wird herausgearbeitet, zu einem wesentlichen Teil Leiparts Politikverständnis in den zwanziger Jahren. Sie sei aus der Ebene des Schlagworts zum Forschungsgegenstand erhoben worden. Leipart habe die Wirtschaftsdemokratie bereits 1926 damit begründet, daß die Wirtschaft keine private, sondern eine öffentliche Angelegenheit sei. Jeder, der in der Wirtschaft wirke und arbeite, solle seine Tätigkeit als einen Dienst am Volke betrachten. Der arbeitende Mensch habe für die Wirtschaft noch eine größere Bedeutung als die Produktionsmittel. Die Arbeiter sollten gleichberechtigte Wirtschaftsbürger sein. Nach Leipart dürften es die Gewerkschaften nicht länger zulassen, daß die Unternehmer die Wirtschaft als ihre Privatangelegenheit betrachten. Die Idee der Wirtschaftsdemokratie sollte das Hineinwachsen in den Sozialismus bzw. das Herauswachsen aus dem Kapitalismus begründen. Auf Leiparts Initiative habe Fritz Naphtali die in den Gewerkschaften geführte Diskussion zusammengefaßt und als Buch mit dem Titel Wirtschaftsdemokratie: ihr Wesen, Weg und Ziel 1928 veröffentlicht. Mit der ausführlichen Untersuchung und Darstellung dieser Problemsicht wird zugleich auf eine gewiß aktuelle Aufgabe aufmerksam gemacht, ohne die zu lösen kein demokratischer Sozialismus, keine grundlegende Reformierung der deutschen und europäischen gesellschaftlichen Verhältnisse denkbar sein würde. Demokratischer Sozialismus bzw. soziale Demokratie erfordern eine Fortführung des einst von Leipart mit eingebrachten Konzepts der Wirtschaftsdemokratie, wenngleich unter grundlegend veränderten Voraussetzungen.

Hier ist festzuhalten: An der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung Interessierte kommen nicht umhin, sich diese hier besprochene Arbeit für ein möglichst reales Geschichts- und Gesellschaftsverständnis zu erschließen.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 11/00 (c) Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

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