Eine Rezension von Rulo Melchert


„... einer der ganz großen Erzähler in spanischer Sprache ...“

Juan Carlos Onetti: Willkommen, Bob
Gesammelte Erzählungen.
Aus dem Spanischen von Jürgen Dormagen, Wilhelm Muster und
Gerhard Poppenberg.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 1999, 456 S.

Juan Carlos Onetti, Schriftsteller und Journalist, wurde 1909 in Montevideo geboren, er starb, aus politischen Gründen seit den siebziger Jahren im Exil lebend, 1994 in Madrid. Sein Werk umfaßt zahlreiche Romane und Erzählungen.

Seine Romane liegen fast alle auch in deutsch vor, von Das kurze Leben bis Magda. Dazu gehört der berühmte Santa-Maria-Zyklus, an Faulkner und Dos Passos geschult, in dem eine fiktive Modellstadt am La Plata erzählerisch aufgebaut wird, mit immer wiederkehrenden Figuren. Oft sind es Künstler und Intellektuelle, Scheiternde, Entfremdete, Marginalisierte, Alternde allemal, aus deren Sicht die Welt angesehen wird, eine Wahrnehmung und Reflexion, die vor allem Verfall sichtbar macht. Erzählt wird aus wechselnden Perspektiven und mit wechselnden Erzählern, wobei aus einer verwirrten, aufgesplitterten Wirklichkeit künstlerisch Genuß und Geschlossenheit gezogen wird. Erstaunlich, daß in einer Welt, wo das Absolute zerbrochen ist und die Seele verzweifelt vor dem Nichts steht, wie E. Sábato sagt, Onetti zu jenen Autoren gehört, die dazu verdammt sind, für die Menschheit zu träumen. Leben, Freundschaft und Liebe, Menschen, die zerbrechen, in Lüge, Wahnsinn oder Selbstmord enden - in den Geschichten ist immer ein Stück Phantasie da, Flucht- und Haltepunkt für den Erzähler, der selbst ein Nichts nicht mit nichts beschreiben kann, sondern dazu immer noch Wörter braucht und Menschen, mit Namen, an Orten lebend, mit einer mehr oder weniger kleinen Geschichte und Beziehung zu anderen.

Die jetzt vorliegenden gesammelten Erzählungen folgen der letzten zu Lebzeiten Onettis erschienenen Ausgabe Cuentos completos, 1994, erweitert 1995 in Madrid erschienen. Allerdings sind nicht sämtliche Erzählungen aufgenommen, die frühen bis Anfang der vierziger Jahre fehlen, in denen Onetti, so die Nachwort-Begründung, sich erst erprobt und seine Ausdrucksformen noch zu finden versucht. Aber die späten Erzählungen und Erzählsplitter, Skizzen, Versuche, Fragmente, manche posthum, sind sämtlich in dem Band enthalten. „Wir haben sie deshalb allesamt aufgenommen“, so Poppenberg/Dormagen, „weil gerade bei diesen späten Texten nicht leicht auszumachen ist, ob ihr teilweise dunkles Leuchten mangelnder Ausarbeitung geschuldet oder doch einer größeren und rücksichtslosen Bereitschaft Onettis zu verdanken ist, bei der Erkundung des Geheimnisses der Phantasie und der Fiktion ins ganz schroff Rätselhafte zu gelangen.“ Das klingt schön, aber durchaus nicht ganz einleuchtend. Warum das sichere Urteil über die frühesten Texte, die sie aus deutschen Ausgabe ausscheiden, warum das unsichere über die spätesten, die sie zur Aufnahme geradezu prädestinieren? In der Tat, viele dieser späten Erzählungen sind nicht leicht zu ergründen. Ein Geheimnis waltet, über das nicht nur Saad zu wachen scheint. In dessen Auto steigt, ja was, ein Mann, eine Frau, ein Ephebe, ein Hermaphrodit, ein Es jedenfalls. So auch bleiben andere Geschichten in der Schwebe. Andere wieder sind von einer ganz handfesten Wirklichkeit bestimmt. Da beauftragt einer einen Privatdetektiv, seine Frau ausfindig zu machen. John erzählt, warum ein Kater seine Heirat mit Marie zerstörte. Eine Alte erhält jeden Nachmittag Besuch von Kindern, die schlagen sie dann eines Tages nieder, stehlen ihr Geld. Simón, der Maler, lebt in einer Kellerwohnung, er geht nicht mehr zu seinen Künstlerfreunden ins Café, weil es zu teuer ist; Geld, das man für ihn sammelt, behält er für die erträumte Hochzeit mit einem reichen Mädchen. Charlie lädt alle seine Freunde ein, um sich bei der Party vor ihren Augen umzubringen. Andrade, mit Marisol zusammenlebend, geht mit wachsendem Vergnügen zu Kondolenzen, nach einem Autounfall sitzt er gelähmt und unheilbar im Rollstuhl. Sonia zieht auf den Strich, aber erfolglos kommt sie nach Hause zu ihrem Jungen zurück. In „Sie“ stirbt eine Frau, fünf Ärzte sind um sie bemüht, dann kommt der Einbalsamierer - Evitas Geschichte und Schicksal, auch das gibt es, von Onetti erzählt. Die Palette ist reich, von der Onetti seine Farben ausstreicht. Das Wirkliche und das Unwirkliche stoßen nicht nur einfach aufeinander, wobei das Wirkliche auf der Strecke bleibt. Das Wirkliche ist das Unwirkliche. Die Fiktion ist nie in Frage gestellt, es wäre dieses Erzählen denn kein Erzählen. Phantasie, der Traum, die Einbildung, es ist alles Literatur.

In „Ein verwirklichter Traum“ erinnert sich der Ich-Erzähler, ein Schauspieldirektor, daß eines Tages eine Frau zu ihm kam und ihm ein Stück anbot, dazu noch Geld für die Aufführung. Es ist etwas, was nur sie sehen will und niemand sonst. Kein Publikum, nur sie und die Schauspieler. Die Szene wird gespielt, nach ihren Anweisungen. Es gibt nicht einmal einen Text. Es ist alles ein Traum der Frau. Die Frau ist tot danach. Sie selbst hat sich verwirklicht. Einmal wollte sie diesen Traum sehen. Einmal sollte alles so sein, wie sie es den Schauspielern sagt, und nur das wurde gemacht. Während einer Unzahl von Jahren hat der Schauspieldirektor all diese elenden Leute ertragen, die Autoren, Schauspieler, Schauspielerinnen, Theaterbesitzer, die Kritiker der Tageszeitungen, die Familie, die Freunde und die jeweiligen Liebhaber und Geliebten. Aber nicht der „Hamlet“, mit dem er sich angeblich ruiniert hat, den er aber gar nicht richtig kennt, ist es, über den er als Ich-Erzähler erzählen muß, sondern dieses Erlebnis mit jener Frau, die ihren „Verwirklichten Traum“ ganz für sich allein auf der Bühne sehen will, eine Fiktion ohne Publikum. Es ist zugleich wohl auch des erfolglosen Schauspieldirektors eigener Traum, der Wirklichkeit wird, es ist dies seine eigentliche Aufopferung für die Kunst. Eine eigentümliche Spannung liegt zwischen dem Damals und dem Jetzt, der Zeit des Geschehens und des Erinnerns. Davon lebt auch „Willkommen, Bob“, die Titelgeschichte des Bandes. Ein Ich-Erzähler erinnert sich an Bob, der jetzt Roberto heißt. Lang ist es her, viel Zeit ist vergangen, Lebenszeit. Glücklich und bleich war Bob, träumerisch seine Miene, wenn er Jazz hörte, Architekt wollte er werden, eine unendliche Stadt erbauen an der Küste. Aber Bob verhinderte, daß sich der Ich-Erzähler um seine Schwester bemüht, sie gar heiraten kann. Er sei auf schmutzige Weise sinnlich, wirft ihm Bob vor, und er sei an elende Dinge gekettet, von denen er mitgeschleift werde. Die Schwester geht nach Buenos Aires, heiratet einen anderen. Als der Ich-Erzähler später wieder auf Bob trifft, der sich Roberto nennt, beginnt zwischen beiden eine zweite Freundschaft. Über das Vergangene wird nicht geredet. Aber im Schweigen des Ich-Erzählers hält es sich lebendig. Keiner weiß, daß in ihm Haß wächst, Rachegedanken. Er denkt nur noch an Bob, wie er einmal war. Er denkt an seine Reinheit, seinen Glauben, die Kühnheit seiner vergangenen Träume. Er denkt an jenen Bob, der die Musik liebte und der den Plan gefaßt hatte, das Leben der Menschen großartiger zu machen, der eine Stadt von blendender Schönheit bauen wollte für fünf Millionen Einwohner. Er denkt an Bob, den Herrn der Zukunft und der Welt. Aber der ihm jetzt gegenübersitzt, hat mit jenem Bob nichts mehr zu tun. Dessen Finger sind vom Tabak gelb, er führt ein groteskes Leben, arbeitet in einem stinkenden Büro, ist mit einer dicken Frau verheiratet, die er „Meinegattin“ nennt, er studiert Zeitungen im Café, und per Telefon wettet er beim Rennen. Für den Ich-Erzähler ist Bob, der sich Roberto nennt, endgültig in das schmutzige Leben der Menschen untergetaucht, er kann nicht mehr weggehen, denn er hat keinen Ort, wohin er gehen könnte. Der mit dreißig Jahren Altgewordene, der sich, ohne angewidert zu sein oder zu stolpern, zwischen den schrecklichen Kadavern der alten Sehnsüchte, den ekelhaften Formen der Träume bewegt, dieser Bob ist für den Ich-Erzähler die ausreichende Genugtuung, seine Rache, die beglichene Rechnung aus früheren Zeiten.

Innerhalb der so reichen lateinamerikanischen Literatur unseres Jahrhunderts ist die erzählerische Leistung Juan Carlos Onettis etwas ganz Eigenes. Dieses Erzählen nimmt die Moderne in sich auf, ohne sie aber noch einmal zu wiederholen. Es gehört zur Kunst Onettis, mit oft nur wenigen Strichen eine Situation, eine Gestalt, einen Ort, eine Aussage zu formen. Vorgeführt wird im Grunde immer nur das Überschreiten einer Grenze. Manchmal kommt wer wieder, manchmal aber auch verschwindet einer, einfach so und für immer, weil er über eine Straße gegangen ist oder sein Traum sich verwirklicht hat. Manchmal erzählt einer nur von einem Ort, den er verloren hat, wie man eine Sache verliert, aber vergessen hat er den Ort nicht. Es scheint, als hätte Onetti nur in der Nacht gelebt und geschrieben. Groß ist die Zahl jener Unglücklichen und Einsamen, Männer und Frauen der großen Stadt, Scheitern die Form, in der nur sie leben können, Glück nur ein flüchtiger Augenblick. Aber das alles wird durch Wörter ins Sichtbar-Dauernde gehoben, ins dunkle Leuchten von Literatur, Geschichten, die erzählen auch dann noch, wenn das Erzählen an ein Ende zu stoßen scheint. Augusto Roa Bastos traf das Richtige, als er sagte: „Juan Carlos Onetti ist einer der ganz großen Erzähler in spanischer Sprache und ohne Zweifel der schlechthin klassische Schriftsteller unserer heutigen lateinamerikanischen Literatur.“ Das sagte einer, der selbst einer der ganz großen Erzähler ist. Er wußte, wovon er sprach.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 11/00 (c) Edition Luisenstadt, 2000
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