Eine Rezension von Gisela Reller


„Ich nehme es mit jedem auf ...“

Natalija Geworkjan/Andrei Kolesnikow/Natalja Timakowa:
Aus erster Hand
Gespräche mit Wladimir Putin.
Aus dem Russischen von Eva Henkensiefken.
Wilhelm Heyne Verlag, München 2000, 239 S., 32 Bildtafeln

Gerade erschien im Regensburger Verlag Friedrich Pustet eine dickbändige Geschichte Rußlands und der Sowjetunion, Von Lenin bis Jelzin, da schließt sich auch schon dieses Buch an mit Gesprächen mit Wladimir Putin. Seine drei Interviewer - Mitarbeiter der renommierten russischen Zeitung „Kommersant“ („Handelsmann“) - trafen sich sechsmal zu mehrstündigen Gesprächen mit Putin, der oft zu spät (typisch für Putin), in Hemdsärmeln, aber immer mit Krawatte erschien.

Diese Gespräche - im „Kommersant“ im Februar dieses Jahres erschienen - zeigen den inzwischen vom russischen Volk im ersten Wahlgang gewählten Präsidenten Rußlands als neuen Hoffnungsträger. Das Buch ordnet Putins Leben in zehn Kapitel: Der Sohn (der sehr liebevoll mit seinen Eltern umgeht und ihnen nicht widerspricht); der Schüler (der es vorzieht, ein Rowdy statt ein Pionier zu sein); der Student (der Jura studiert, weil er unbedingt Kundschafter werden will); der junge Spezialist (der mit lauter ewig Gestrigen zusammenarbeiten muß); der Spion (der von 16 KGB-Jahren knapp fünf in Dresden verbringt: „Es war ein streng totalitäres Land nach unserem Muster und Vorbild, aber mit dreißigjähriger Verspätung.“); der Demokrat (der - „die wahrscheinlich schwerste Entscheidung meines Lebens“ - beim KGB kündigte); der Beamte (von dem „alle sagen: Der ist aber hart, brutal sogar...“); der Familienvater (der seine Frau liebt - trotzdem läßt er sich von ihr nicht um den Finger wickeln -, die Töchter und den Pudel verwöhnt, sich nie betrinkt, manchmal schlechte Laune hat); der Politiker (der seine Mitarbeiter, „auch die Militärs“, nach fachlicher Eignung und danach aussucht, ob sie die gleiche Wellenlänge haben, und der - egal bei wem - erst einmal von einer Unschuldsvermutung ausgeht); der amtierende Präsident (der weit von sich weist, ein Diktator zu sein, über die Monarchie jedoch sagt: „Ein Monarch muß nicht darüber nachdenken, ob er gewählt wird oder nicht ... Er kann über das Schicksal seines Volkes nachdenken, ohne sich von Kleinigkeiten ablenken zu lassen.“)

In ihrer Vorbemerkung erklären die drei Journalisten, daß nicht eine Zeile aus ihrer Feder stammt - mit Ausnahme der Fragen. Diese Fragen sind oft zugespitzt, oft sehr unbequem, z. B. die Frage nach Putins erster Liebe, die er, als alles schon zur Hochzeit vorbereitet ist, verläßt; oder die, ob er - als er beim KGB anfing - wirklich nichts von den Repressalien in den dreißiger Jahren wußte; ob er die Verbannung Sacharins als tragisch empfand; über seine Empfindungen beim Fall der Berliner Mauer; nach seiner Haltung beim Putsch im August 1991 oder über seine Beziehung zu Jelzin ...

Putin antwortet (manchmal nach langem Schweigen) erstmals auch offen auf persönliche Fragen. Manchmal - wenn ihm eine Frage zu persönlich erscheint - bittet er, das Diktiergerät auszuschalten. Bei den oft recht vagen Antworten zu seiner Agententätigkeit muß der Leser allerdings zwischen den Zeilen lesen können. Am ausführlichsten wird Putin zu den Tschetschenienkriegen befragt. Als seine Hauptaussage empfinde ich, daß er die Lage im Nordkaukasus als die Fortsetzung des Zerfalls der UdSSR einschätzt und seine Behauptung, daß sich Tschetschenien nicht auf seine eigene Unabhängigkeit beschränken würde: „Das würde die Speerspitze für weitere Überfälle auf Rußland bedeuten.“ Wenn die Extremisten (meist spricht Putin von Banden und Banditen) nicht aufgehalten werden, würde auf dem Gebiet der gesamten Russischen Föderation ein zweites Jugoslawien drohen... Manchmal haken die Journalisten unerbittlich nach, z.B. wenn es um die Sprengung von Häusern in Moskau, Buinaksk und Wolgodanks geht, manchmal ziehen sie sich nach unbefriedigenden Antworten, z.B. nach der Beziehung zu Jelzin und der Kreml-„Familie“, allzu schnell zurück. Vollkommen vermißt habe ich eine Frage nach dem Schicksal des russischen Journalisten Andrej Babickij, der in Tschetschenien von russischen Truppen festgehalten und dann angeblich im Austausch von russischen Kriegsgefangenen an die tschetschenische Seite übergeben worden war. Putin hatte Babickijs Beiträge für Radio Free Europa, als gefährlicher, „als wenn er eine Maschinenpistole geschwenkt hätte“, bezeichnet. Bei dem Wirbel, den das Verschwinden, dann Wiederauftauchen des nun zum Schweigen gebrachten Journalisten - der als einziger Journalist regelmäßig aus Grosny berichtete - auslöste, muß den drei Interviewern doch eine Frage nach ihm geradezu auf den Nägeln gebrannt haben. Wurden die Interviews von Putin zensiert? Darüber erfährt der Leser leider nichts.

Die umfänglichen Aussagen von Putins Klassenlehrerin, von seinen Kollegen, Freunden, Familienangehörigen ergänzen die Interviews auf das beste. Seine Frau Ljudmila scheint eine äußerst passable Frau zu sein. „Mich braucht man nicht auf Händen zu tragen“, sagt sie. „Ich gehöre wahrscheinlich eher zu der Kategorie Frau, über die gesagt wird: ,Sie fürchten kein scheuendes Pferd und fliehen kein brennendes Haus.´“

Weiß man nach der Lektüre des Buchs, wer Herr Putin - von dem sich die Öffentlichkeit bis jetzt kaum ein klares Bild machen konnte - nun wirklich ist? Man weiß jetzt aus erster Hand, daß Wladimir Putin schweigsam, zuweilen etwas schroff, manchmal verletzend sein kann, daß er ein emotionaler Mensch ist, der es nur nicht so zeigen kann, daß er Verrat und sonstige Gemeinheiten niemals und niemandem verzeiht, daß es sein Prinzip ist, nichts zu bedauern (weil das ein Zurückschauen bedeutet), daß er eine Karriere nur der Karriere willen nicht sehr erstrebenswert findet, daß er als „letzte Instanz“ auch autoritär - sein muß, daß er ganz und gar kein Hitzkopf ist, daß er es mit jedem aufnimmt... Ja, man ist dem russischen Präsidenten, seiner Familie und seinem Freundeskreis sehr viel nähergekommen und: Man gewinnt den Eindruck, daß Wladimir Putin noch viel für Rußland bewegen wird ...


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 11/00 (c) Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

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