Eine Rezension von Helmut Hirsch


Exkursionen in die Vorzeit

Richard Fortey: Leben
Eine Biographie. Die ersten vier Milliarden Jahre.
Deutsch von Friedrich Griese und Susanne Kuhlmann-Krieg.
C. H. Beck'sche Verlagsbuchhandlung, München 1999, 443 S., 28 Abb.

Bevor der Autor, Paläontologe am Natural History Museum in London, seine weite Reise zurück zu den Anfängen des Lebens beginnt, erinnert er sich erst einmal seiner Studentenjahre. Der einundzwanzigjährige Student Fortey nimmt an einer Expedition teil, die die Gegend um Spitzbergen erkundet. Er sieht Vögel, die er bisher nur „als Bilder in Vogel-kundebüchern“ gesehen hatte. Und das Meer erscheint ihm wie „ein schillerndes Zoologielehrbuch“. Abenteuer und Wißbegierde versetzen den jungen Studenten in Euphorie. Schließlich das Meer der Fossilien: „Trilobiten, Brachiopoden und daneben zahllose, nicht einzuordnende Dinge“. Alles ist neu, vieles ist unerklärlich. An dieses Erlebnis erinnert sich der Forscher Richard Fortey Jahrzehnte später. Längst ist er hinabgestiegen in die graue und grüne Vorzeit des Lebens auf der Erde. Seine Begeisterung ist so groß, daß er beschließt, eine Biographie des Lebens, des vergangenen Lebens, zu schreiben. Denn: „Fossilien sind Boten der Zeit.“ Ihre Sprache, ihr Leben zu entschlüsseln erklärt auch gegenwärtiges Leben. Und während Richard Fortey ein prächtiges Fossil betrachtet, entwirft er vor dem Leser einen Steinkohlenwald, wie es ihn vor 330 Millionen Jahren gegeben hat. Die Namen der Erdzeitalter bekommen Leben. Im Kambrium tauchen die Trilobiten auf, in die sich der Student vor Spitzbergen einst verliebt hatte. Mit Richard Fortey durchschwimmen wir riesige Korallenriffe, erleben eine Rundfahrt über einen Riesenkontinent, den es so schon längst nicht mehr gibt. In den ersten vier Milliarden Jahren spielte sich das Leben mehr im Meer als auf der noch vergleichsweise geringen Erdoberfläche ab. So eilen wir mit dem Autor von Tauchstation zu Tauchstation. Aber es ist nicht alles pure Schönheit. Auch werden wir in diesem spannenden Buch Zeugen von gigantischem Massensterben. Nicht alles kann erklärt werden. Denn alles ist nur Rekonstruktion mit den zugänglichen Hinterlassenschaften. Die Erde birgt vieles. Es ist wie in einem Buch, Schicht für Schicht, Seite für Seite, immer gibt sie ein neues Geheimnis preis, das der Wissenschaftler beschreibt und befragt. Die Fossilien, lesen wir, waren „eingeschlossen wie die Zeit selbst, Teil der steinernen Chronik“. Die Rekonstruktion macht vergangenes Leben sichtbar und verständlich, doch ein vollständiges Bild läßt sich nicht herstellen. Dieses Buch heißt Leben, und es verfährt in seiner Darstellung chronologisch. Die Abläufe gehen ineinander über; etwas endet, Neues beginnt zaghaft, wächst zu Großem. Der Leser kann staunen. Zuerst über die ausgebreitete Vielfalt, dann über die ernüchternde Feststellung, daß wahrscheinlich nur ein Prozent aller jemals lebenden Spezies durch Fossilien belegt werden kann. Der „Rest“ bleibt vermutlich ewig unbekannt.

Bei alledem kann das rätselreiche Staunen nicht unterdrückt werden. Immerzu die Fragen nach dem Wieso und Wodurch. Welterklärungsfragen also. Was hat es mit der Kraft, der Wucht, dem Zufall der Evolution auf sich. Gibt es im wirren Wirken einen Plan der Natur, oder verbirgt sich dahinter doch ein mächtig-unheimliches Konstrukt? Der Paläontologe Fortey spielt nicht mit solchen Gedanken, er setzt auf den glücklichen Zufall der Naturereignisse. Die Geschichte des Lebens ist somit ein Strom unendlich vieler Zufälle in Form von Veränderungen, die durch universale Kräfte verursacht worden sind. Spannend, anschaulich, lesenswert.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 11/00 (c) Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

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