Eine Rezension von Björn Berg


Bilder wie eine leise Rede ...

Chagall, Marc: Mein Leben
Mit Radierungen von Marc Chagall.
Insel Verlag, Frankfurt/M. 2000, 62 S.

Manchmal möchte man's fast nicht glauben! Es gibt sie noch, die Insel-Bücherei. In der DDR war sie eine der beliebtesten Sammelobjekte der Bücherfreunde, die für 1 Mark 25 alles bekamen, was sie als Lesende und Sehende freute. In der fortgeführten Bücherei wird nun als Nummer 1206 Marc Chagalls Mein Leben herausgegeben. Ein Zyklus von zwanzig Radierungen, die bereits Anno 29 als Mappe verbreitet wurden. Den Graphiken sind Texte aus der Autobiographie des Märchen-Malers zugeordnet, der aus dem jüdischen Viertel des russischen Witebsk kam. Mit Hingabe hielt er an Herkunft und Kindheit fest. Armut war für den Künstler nicht identisch mit Armseligkeit. Alle Armseligkeit hob schon der Junge auf. Phantasie machte sein Leben und das der Menschen reich, aus deren Mitte er stammte. Die Mitte machten die Familien-Räume, -Begegnungen und -Bindungen. Also die Familien-Liebe, die den Totgeborenen lockte. „Mit Nadeln gestochen ... in einen Wassereimer getaucht“, wachte der Zögerliche auf, um schließlich in der Chagall-Welt anzukommen. Die gestattete ihm schon zu Lebzeiten Ausflüge in den himmlischsten Himmel. Alles Irdische, vom Geburtsort, der Geburt, den Großeltern bis zum Grab von Vater und Mutter, entzog er der argen Erdenschwere. Die Radierungen des Zyklus sind eine leise Rede. Mit wenigen Strichen wird wortreich von einer Lebens-Realität erzählt, zu der sich jeder Betrachter manches hinzuerzählen kann. Marc Chagalls Bilder laden ein, sich eigene Bilder zu malen. Da der Künstler diesen Spaß allen gönnt, verbraucht sich die Sympathie für ihn nie. Das ist so seit fast einem Jahrhundert. Auch kaum zu glauben! Aber auch wahr!


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 11/00 (c) Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

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