Eine Rezension von Waldtraut Lewin


cover

Musik und Politik

Esteban Buch: Beethovens Neunte
Eine Biographie.
Aus dem Französischen von Silke Haas.
Econ Ullstein List Verlag, München 2000, 384 S.

Das scheint ein kluger Kopf zu sein, der einen da anguckt vom Foto auf dem Umschlag des Buches, jung, clever, kritisch. Leider erfahren wir über den Verfasser nicht viel mehr, als daß er 1956 in Buenos Aires geboren wurde, Musikwissenschaft und Soziologie in Paris studierte und dort lebt und publiziert.

Die Verbindung von Soziologischem und Politischem nun, diese interessante Kombination macht den Reiz und das Besondere des Buches aus. Die „politische Biographie“, also die Rezeptionsgeschichte der „Neunten“, ist eng verknüpft mit all dem, was sich in Europa in den letzten zweihundert Jahren abgespielt hat. Und natürlich ist es vor allem die „Ode an die Freude“, jene Verbalisierung und damit Konkretisierung des musikalischen Inhalts, die zahllose Exegeten auf den Plan gerufen hat, zahllose Ideologen, die da ein pathetisches „Denn er war unser!“ anstimmten. Einverleibung von Musik in ein politisches Projekt - nie wurde es so leichtgemacht wie hier, nie war es so verführerisch. Oder, wie Esteban Buch schreibt, es ließ „Beethovens Neunte zu einer Art musikalischem Fetisch des Westens werden“.

Das 18. Jahrhundert bescherte Europa die Geburt der modernen Staatsmusik - sprich, der Nationalhymnen verschiedenster Couleur. Als dann zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Grande Armee Napoleons seine Version von Egalité, Liberté und Fraternité nach Europa tragen wollte, bekamen im Widerstand der Nationalismus und mit ihm die „nationale“ Musik erneuten Aufschwung. Wir alle wissen um Beethovens zwiespältige Stellung Napoleon und den Idealen der Französischen Revolution gegenüber, wissen, daß - siehe das Finale des „Fidelio“ - für ihn eine liberalistische Befreiung „von oben“ durchaus auf der Tagesordnung war. In diesem Kontext steht auch die „Neunte“.

Schillers „Ode an die Freude“: Schon zu ihrer Entstehungszeit gab es Vermutungen, daß da ursprünglich an eine „Hymne auf die Freiheit“ gedacht worden war, was aber aus Zensurgründen nicht möglich war. (Allerdings ist diese These niemals bewiesen worden - was nicht bedeutete, daß sie nicht bis auf den heutigen Tag wiederholt wird.)

Schillerschem Gedankenzuschnitt ist es zuzutrauen, und eins darf als sicher gelten: Dem nachnapoleonischen Europa, wie es sich vor allem in der Restauration unter Metternich darbot, hätte der geistige Schüler Kants gewiß keine Hymne weihen wollen. Für Beethovens generelles Einverständnis mit dem bestehenden System jedoch spricht vieles.

Kein anderer als Metternich, der Sachwalter der Reaktion, ist es, der den Gedanken des „europäischen Konzerts“ das erste Mal ins Spiel bringt. Er, der sich als den „großen Minister der europäischen Ordnung“ sieht, erlebt um sich herum das Aufblühen von hymnischen Jubelmusiken aller Art, fast immer chorischer, also verbaler Struktur. Die „Brüderlichkeit unter der Schirmherrschaft der Monarchen“ wird da thematisiert. Und so erstaunt es nicht, daß Beethovens „Ode an die Freude“ ihren Platz in einem „europäischen Konzert“ schon zu ihrer Entstehungszeit einnimmt.

Mit großer Akribie und einer Fülle von dokumentarischem Material führt uns Esteban Buch von diesem Ausgangspunkt her durch die Aufführungsgeschichte der „Neunten“. Von der Beethoven-Verklärung der Romantik über die gigantische Beethoven-Feier 1845 in Bonn und die zum 100. Todestag 1927 - hinein in die Vereinnahmung durch die Nationalisten und Faschisten genauso wie durch die Kommunisten. Absolute Pervertierung: In Auschwitz studierte ein tschechischer Chor unter anderem die „Ode an die Freude“ ein. Esteban Buch: „Die Frage nach der Ambivalenz der Musik ist immer beunruhigend und die nach einem ,Beethoven in Auschwitz´ ist, gelinde gesagt, grauenerregend.“

Musik ist wehrlos und Beethoven unschuldig. Sogar das rassistische Minderheitensystem in Rhodesien machte, Gipfel des Absurden, den letzten Satz der „Neunten“ zur Nationalhymne! Zum „Song of Joy“ verkümmert und trivialisiert, zur „Hymne an die Freiheit“ von Bernstein anläßlich des Mauerfalls am Brandenburger Tor in einer äußerst fragwürdigen künstlerischen Konzeption aufgeführt, hat die „Neunte“ nun einen weiteren Höhepunkt der Verballhornung erreicht: Der Schlußsatz wurde nach langem zögerlichen Hin und Her zur Europahymne gekürt - freilich ohne den Schillerschen Text. Eine wortlose Hymne, eine kastrierte Hymne, eine Verlegenheitslösung ohnegleichen.

Die Geschichte des Gebrauchs oder Mißbrauchs von Musik für politische Zwecke ist nicht zu Ende. Esteban Buch hat diese „Biographie“ mit viel Verve, viel Klugheit, viel Zweifel am Bestehenden geschrieben. Zweifellos spannend für deutsche Leser ist auch der spezifisch französische Blick auf die Rezeption dieses Werks in Frankreich wie in Deutschland. Man erfährt eine Fülle von Wissenswertem über Kunst und Geschichte, und stets so, daß es sich spannend wie ein Roman liest. Zum Schluß bleibt die Frage nach der „... Botschaft der IX.Sinfonie, jenes Überbleibsel aus einer für uns fernen Welt“. Ist es für uns noch bedeutungsvoll? Oder könnten wir auch akzeptieren, daß sie eines Tages verstummen würden - „ohne daß dies unbedingt eine Katastrophe wäre“?

Ein Buch, das Fragen aufwirft, ohne Patentlösungen anzubieten. Ein Buch, das uns zum Nachdenken über dies - unser - Europa motiviert.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 11/00 (c) Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

zurück zur vorherigen Seite