Eine Rezension von Eberhard Fromm


Führer einer umzingelten Stadt

David E. Barclay: Schaut auf diese Stadt
Der unbekannte Ernst Reuter.
Siedler Verlag, Berlin 2000, 447 S.

Dies ist eine gelungene, sachlich und doch mit Engagement geschriebene Biographie über jenen Berliner Oberbürgermeister, der vor fünfzig Jahren als erster den Titel Regierender Bürgermeister von Berlin führte. Daß ebendiese Zeit als Höhepunkt im Leben Ernst Reuters gewertet wird, verrät schon die quantitative Gestaltung des Buches. Von den etwa 350 Textseiten entfallen 150 Seiten auf die Berliner Zeit seit 1946, obwohl sie doch im Leben Reuters nur sieben Jahre ausmachte. Der amerikanische Autor sieht in diesen Jahren den Zenit, nicht das Ende im Leben und Schaffen von Reuter. Noch zugespitzter: Den Auftritt Reuters am 9. September 1948 auf der Kundgebung vor dem Reichstagsgebäude, als er jene berühmten Worte sprach „Schaut auf diese Stadt“, nennt er den berühmtesten Augenblick in Reuters Leben. Etwas unscharf bleibt dagegen die damit verbundene Behauptung: „In diesem Moment entstand die Legende Ernst Reuter.“ (S. 194) Denn den Beweis dafür, daß eine solche Legende existiert und worin sie denn besteht, bleibt uns der Autor schuldig.

In sechs Kapiteln wird das Leben und Wirken Ernst Reuters erzählt. Barclay interpretiert dieses Leben als Versuch, „sich mit den unterschiedlichen deutschen Zukunftsentwürfen des zwanzigsten Jahrhunderts auseinanderzusetzen“ (S. 14). Von daher sind die Kapitelüberschriften zu verstehen: Die Zukunft des Individuums, das ist die Jugendzeit bis zum Ersten Weltkrieg, als Reuter vom Neukantianismus her zur Sozialdemokratie stößt; Die Zukunft des Kollektivs, das ist das kommunistische Zwischenspiel; Die Zukunft der Großstadt, das ist die Arbeit des Sozialdemokraten Reuter als Kommunalpolitiker in Berlin und Magdeburg; Die Zukunft der Demokratie: die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, das ist vor allem die Emigration in der Türkei; Die Zukunft der Demokratie: die Auseinandersetzung mit dem Kommunismus sowie Die Zukunft Deutschlands, das sind die Berliner Jahre.

Ernst Reuter, am 29. Juli 1889 in Apenrade in Schleswig geboren, hat tatsächlich ein bewegtes, manchmal sogar abenteuerliches Leben geführt. Dabei war er weder durch seine Herkunft - Vater Wilhelm lehrte an einer Navigationsschule - noch durch seine geistige Entwicklung - er studierte vor allem in Marburg bei dem Neukantianer Hermann Cohen- politisch oder sozial geprägt, den Weg zur Arbeiterbewegung zu gehen. Aber bereits vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges hatte er sich entschieden, arbeitete als Wanderredner für die Sozialdemokratie und kam 1913 nach Berlin.

Eine entscheidende Wende vollzog sich in russischer Kriegsgefangenschaft, in die Reuter 1916 geraten war. Er schloß sich nach der Oktoberrevolution 1917 den revolutionären Kräften an, agitierte unter den deutschen Kriegsgefangenen, arbeitete mit Karl Radek zusammen und traf mehrfach mit Lenin und auch Stalin zusammen. 1918 erhielt er den Auftrag, als Kommissar für deutsche Angelegenheiten im Wolgagebiet zu arbeiten, wo um Saratow größere Siedlungen der Wolgadeutschen existierten. Im Dezember 1918 kehrte er mit Radek nach Deutschland zurück, wo er am Gründungsparteitag der KPD teilnahm.

Die Zeit innerhalb der kommunistischen Bewegung, Reuter hatte sich den Parteinamen Friesland zugelegt, war kontrovers. Vom hohen Funktionär in Berlin und in der Parteizentrale - zeitweilig als Generalsekretär - bis zum Parteiausschluß 1922 reichten die Etappen, die Friesland-Reuter in diesen wenigen Jahren durchlief.

„Mitte der zwanziger Jahre hatte Ernst Reuter endlich seine politische Heimat gefunden. Nach zwei Jahrzehnten politischen Suchens hatte er sich, nunmehr Mitte dreißig, für die politischen und sozialen Auffassungen entschieden, an denen er im wesentlichen für den Rest seines Lebens festhalten sollte.“ (S. 105) Seit 1921 Berliner Stadtverordneter, wurde er für die SPD 1926 besoldeter Stadtrat für Verkehrswesen in der Reichshauptstadt. Von 1931 bis 1933 führte er dann als Oberbürgermeister die Geschicke von Magdeburg.

Mit dem Machtantritt des Hitlerfaschismus endete die Karriere des Kommunalpolitikers Reuter in Deutschland. Nach Verhaftungen und KZ-Einweisungen emigrierte er über England in die Türkei, wo er bis 1946 für die türkische Regierung und als Hochschullehrer tätig war. Dann aber, nach Deutschland und bald darauf nach Berlin heimgekehrt, widmete er sich mit der ihm eigenen Arbeitsintensität dem Wiederaufbau Berlins. Auch wenn 1947 ein sowjetisches Veto seine Wahl zum Oberbürgermeister verhinderte, stand er faktisch an der Spitze der Stadt. Erst nach der politischen Teilung Berlins konnte er diese Funktion auch real ausüben.

Reuter führte die Berliner Geschicke in zugespitzten Zeiten wie der Blockade oder auch dem 17. Juni 1953. Er verhielt sich, wie die „New York Times“ einmal schrieb, wie ein „Regierungschef und Außenminister eines kleinen, von feindlichem Territorium umgebenen Landes“. Dabei waren die Arbeitsbedingungen für Reuter keineswegs einfach. Er vertrat eine eindeutige Abwehrstellung gegenüber allen Versuchen der Sowjetunion, der DDR und der SED, den Status von Berlin zu verändern. Er verstand sich als Linker und vertrat von ebendieser Position aus einen konsequenten Antikommunismus. Gleichzeitig mußte er hartnäckig um das Verständnis für seine Politik bei den drei Westmächten und den Berliner Stadtkommandanten werben. Tief enttäuscht war er, als die verfassungsrechtliche Einbindung Westberlins in die neugegründete Bundesrepublik Deutschland nicht gelang. Sehr distanziert war sein Verhältnis zu Konrad Adenauer. Und auch in der eigenen Partei hatte er mit Franz Neumann einen starken Gegner. Dagegen sah er in Willy Brandt einen Bundesgenossen und seinen zukünftigen „jungen Mann“. Brandt wies später darauf hin, daß Ernst Reuter für ihn prägende Bedeutung besessen habe: „Mich überzeugte die ruhige, vertrauenerweckende Art, durch die er den Berlinern in der Zeit ihrer großen Bedrängnis eine verläßliche Führung gab“, schrieb er (vgl. S. 299).

Ernst Reuter hat sich in seinen Berliner Jahren wenig geschont. Doch in den letzten Monaten seines Lebens, vor allem seit Frühjahr 1953, muß man von geradezu hektischer Aktivität sprechen; im März reiste er in die USA und hatte ein Treffen mit Präsident Eisenhower, im Juni überraschten ihn die Ereignisse in Ostberlin und der DDR, im September fanden Bundestagswahlen statt. Und dazu kamen viele „normale“ Pflichten des Regierenden Bürgermeisters. Noch am 28. September traf er sich mit dem UN-Kommissar für Flüchtlingsfragen und nahm an einer Sitzung des Landesvorstandes seiner Partei teil. Am 29. September 1953 starb er in seiner Wohnung in der Bülowstraße.

Ernst Reuter hat ein bewegtes Leben gelebt. In seiner praktischen Arbeit war er gerade unter komplizierten Bedingungen immer wieder erstaunlich erfolgreich, ob nun an der Wolga oder in Magdeburg, in der Türkei oder in Berlin. Doch heute scheint er irgendwie vergessen zu sein, meint sein Biograph Barclay. Und um dem entgegenzuwirken, ist dieses Buch ein probates Mittel.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 11/00 (c) Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

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