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Christel Berger

„Wir sind nicht anders durch das Vorsetzen der Silbe ,anti‘, sondern, indem wir von Grund auf anders sind.“

Anna Seghers und der Antifaschismus

In Deutschland ist ihr Roman Das siebte Kreuz wohl ihr bekanntestes Buch, errang Anna Seghers doch damit Weltgeltung, bevor die Deutschen den Roman im Land lesen konnten. Der Fall der sieben Häftlinge, die aus einem Konzentrationslager der Nazis flohen und nur einem gelang die Flucht, wurde zum Inbegriff antifaschistischer Literatur. Deshalb und weil nichts an früheren „Inbegriffen“ ungeprüft bleiben soll, ist es an der Zeit, genauer nach dem „Antifaschismus“ der Seghers zu fragen. Ein - angesichts gegenwärtiger Vorkommnisse und Entwicklungen - aktuelles Thema. Der 100. Geburtstag von Anna Seghers am 19. November ist ein weiterer Anlaß.

Angesichts ihres „Markenzeichens“ Das siebte Kreuz könnte man meinen, das hier gestellte Thema sei eine Fragestellung ohne Frage. Beim Schreiben merke ich, daß der Platz nicht einmal für alle losen Gedanken reicht, die mir durch den Kopf gehen. Antifaschismus als das Rückgrat/der rote Faden/die Lebensfalle von Leben und Werk der Autorin? Oder das, was ihr Bleiberecht in zukünftigen Literaturgeschichten und auch Bibliotheken und Buchhandlungen ausmacht? Die Wahrheit und die Mythen um Entstehung und Wirkung des Siebten Kreuzes sowie die Interpretationen dieses Romans sind reichhaltig genug, um noch in Jahrzehnten darüber zu forschen und zu spekulieren. Das siebte Kreuz- Glücksfall des Jahres 1942 oder organisches Glied innerhalb einer großen literarischen Konzeption, die den Nachgeborenen das Jahrhundert erschließt? Da beschreibt eine Schriftstellerin - Ende der 30, nicht gänzlich unbekannt, aber doch so politisch gebunden, daß Tendenz zu erwarten ist - die Flucht von sieben Häftlingen aus einem Konzentrationslager in Deutschland. Ein Buch über Deutschland und über Widerstehen, geschrieben im französischen Exil, zuerst erschienen in den USA, als die mit Deutschland in den Krieg getreten waren. Ein antifaschistischer Bestseller. Anna Seghers sagt 1938 - da arbeitet sie an diesem Buch: „Die Zeit, in der wir leben, hat aus dem scheinbar verwickelten und dunklen Prozeß, der sich zwischen Gesellschaft und Kunstwerk abspielte, einen Kurzschluß gemacht. Soll dieser Kurzschluß nun aber bedeuten, daß der Schriftsteller bei Bekenntnissen stehenbleiben soll? Nein.“1

Weil sie nicht bei Bekenntnissen stehenbleiben will, gestaltet sie. Und immer ist Literatur reicher als die Parole, und so stellt sich meinem Versuch, den roten Faden „Antifaschismus“ zu verfolgen, die Reichhaltigkeit und Vieldeutigkeit ihres Werkes entgegen (und leider muß ich hier aus Platzgründen gänzlich auf Beispiele verzichten, wo Anna Seghers in märchenhaften, mythologischen Texten ihre Sicht auf die Welt verrätselt. Das wäre ein zu weites Feld!). Wenn sie sich vornimmt, über ein Thema schreiben zu wollen, kennt sie die Verlockungen, Gefährdungen und Gegenbewegungen. Beispielsweise im Falle des „gewöhnlichen“ und „gefährlichen Lebens“.

Begonnen hat die Tochter aus gutbürgerlicher jüdischer Familie mit Texten u. a. über das Elend in den Hinterhöfen und über die Hoffnungen und Sehnsüchte nach einem ganz anderen Leben. (Grubetsch, 1927) Ohne Enge, geheimnisvoll, durchaus auch mythisch. Voller Sympathie für Wut und Revolte. (Aufstand der Fischer von Sankt Barbara, 1928.) Während des Studiums war sie in sozialistische Studentenkreise geraten. Ihr Eintritt 1928 in die KPD, ihre Mitarbeit im Bund proletarisch revolutionärer Schriftsteller, die Arbeit ihres Mannes (eines nach der gescheiterten ungarischen Räterepublik nach Deutschland geflüchteten revolutionären Philosophiestudenten) in der MASCH sowie ihre Alltagserfahrung in Berlin prägen mehr und mehr ihr Bild von der Welt als einer Welt der Klassen- und damit auch Parteienkämpfe und ihr Verständnis von der Rolle der Literatur. Sie beschreibt die Erfahrungen und Erlebnisse der Klassenkämpfer (Die Gefährten, 1932) und die Krise der Gesellschaft (Der Kopflohn, 1933) anhand des Schicksals von einzelnen, v. a. der unteren Schichten. Und Schicksale waren und werden es immer sein, was sie eigentlich interessiert. Menschen interessieren sie. Menschen, wie sie sie aus der Bibel und aus Märchen kennt und nun aus den Erzählungen im marxistischen Zirkel und am Küchentisch und aus der Versammlung kennenlernt. Große und kleine Verwicklungen. Warum einer sich so und nicht anders entscheidet. Was einen prägt. Wie einer zur Partei, zu den Genossen findet oder warum nicht.

Nationalsozialisten sind für sie in den Texten vor dem Siebten Kreuz die Verführer, die den Menschen in der Krise falsche Auswege - beispielsweise den Juden als schnellen und greifbaren Feind - bieten. Was an den Nazis verlockt - sind das kostenlose Hemd oder die guten Stiefel, die Gemeinschaft, die schnelle Karriere. Ihr Hauptthema ist der Mensch in der Krise. Ihr Anliegen, ihre Hoffnung: ihn Anschluß finden zu lassen zu den „richtigen“, den kommunistischen Klassenkämpfern. Der wirkliche Feind ist das Kapital.

Während Anna Seghers noch beim Beschreiben dieser Konstellation ist, ergreifen die „Rattenfänger“ die Macht im Land. Die Kommunistin, Jüdin muß ins Exil. In Frankreich - so erinnert sich Anna Seghers 1965 - sagt Jean Richard Bloch bei der Ankunft der deutschen Schriftsteller: „Vielleicht seid ihr selbst daran schuld, daß wir nur schwer verstehen, was bei euch vorgeht. Es fehlt eurer deutschen Literatur an den großen gesellschaftlichen Romanen, die das Leben bei uns in Frankreich, in Rußland, in England, in Amerika erklären helfen.“2

Diese Kritik muß sie mächtig beschäftigt haben. Sie reagiert, indem sie sich zum einen um einen differenzierten Blick auf Deutschland und die Realität bemüht - sowohl das Deutschland der letzten Jahre (Die Rettung, 1937), als auch auf die Gegenwart (genaue Recherche in Österreich und jede nur mögliche Kontaktaufnahme mit Leuten, die aus Deutschland kommen, Studium von Berichten, Zeitungen usw.). Zum anderen erarbeitet sie sich eine Strategie, ein Konzept, das in ihren beiden wichtigen Reden auf den Internationalen Schriftstellerkongressen 1935 und 1938 in der Kontur vorgestellt wird. 1935 spricht sie von der „Vaterlandsliebe“ und führt vor, daß dieser Wert „Vaterland“ nicht den Gegnern überlassen werden darf, daß jeweils konkrete, auch soziale Erfahrungen mit dem Vaterland dessen Wert, dessen Wesen bestimmen, und das habe der Schriftsteller herauszuarbeiten. Schon 1935 ist ihr klar, daß das kein Streit um Begriffe ist, sondern letztendlich geht es um Krieg, der nicht nur droht, „er verlockt auch“, und sie erinnert an die von ihr beschriebenen Menschen in der Krise: „Der Mensch an der Stempelstelle, am laufenden Band, im Arbeitsdienstlager ist ein Niemand. Der mit dem Tod konfrontierte Mensch scheint wieder alles. In gewissem Sinne ist die Lüge wahr und deshalb furchtbar verlockend: ,Das Vaterland braucht Dich.´“3 Und 1938 formuliert sie ihre Strategie vom „Antifaschismus“ folgendermaßen: „Alle Grundlagen heißen letzten Endes: Warum? und Wofür? und nie: Warum nicht? und Wogegen? Wir sind nicht anders durch das Vorsetzen der Silbe ,anti`, sondern, indem wir von Grund auf anders sind. Einer Jugend, die der Faschismus daran gewöhnt hat, vom ,Gefährlichen Leben` zu träumen, müssen wir eine von Grund auf neue Konzeption des Lebens bieten: eine Wahrheit, die weit verführerischer ist als die Lüge, das Aufsichnehmen von Gefahren für die Wahrheit. Statt dem ,Gefährlichen Leben`, wie es von Jünger und Dwinger besungen wurde, jenes andere, das gelebt wurde von Mühsam und Ossietzky.“4

Im Grunde hat sie also vieles der späteren Entwicklung vorausgesehen. Ihr Konzept zeugt von einer wehrhaften Haltung einer Intellektuellen, die in dieser Lage nur in der Einheit von politischem Kampf, Schreibstrategie und Aufklärung eine Reaktionsmöglichkeit sah. Daß jedoch kaum noch Einflußmöglichkeiten nach Deutschland hinein bestanden, ist ein Teil der historischen Wahrheit. Und selbst wenn es solche Wege gegeben hätte, wäre damit ein „Pferdefuß“ deutlich geworden: Der kommunistischen Bewegung ist es nie wirklich gelungen, ein Verhältnis zu Patriotismus und Heimatgefühl, wie es Anna Seghers und anderen Autoren in dieser Zeit vorschwebte, zu entwickeln, geschweige denn für die Massen plausibel und annehmbar zu machen. Im Konflikt mit der internationalistischen Grundhaltung, der Erfahrung von proletarischer Heimat- und Vaterlandslosigkeit und vor allem Eigentumsvorstellungen neuer Art kam es - möglicherweise der Große Vaterländische Krieg der Sowjetunion ausgenommen - nie dazu, Begriffe wie Vaterland, Volk oder Heimat wirklich neu und „von Grund auf anders“ zu besetzen. (Was kommunistische Dichter in ihrem Werk dazu geleistet haben und ob es auf Resonanz gestoßen ist, wäre eine Untersuchung wert.)

Und da sind wir beim Siebten Kreuz, dem literarischen Beleg des kurz skizzierten Konzepts von Anna Seghers. Ihr Held ist keiner der damals bekannten Widerstandshelden, ist fiktiv, wenn auch Resultat vieler Begegnungen mit Leuten, die den Nazis entkamen. Er ist ein eigenwilliger Genosse mit Haken und Kanten. Sein „gefährliches Leben“ ist die Suche nach Helfern auf seiner Flucht, das Wagen des Risikos, und dabei erfährt er das Vaterland- mit seinen Menschen, alltäglichen Gepflogenheiten, der Landschaft, der Geschichte. Alles, was bei Anna Seghers das ihr Eigentliche war: Menschen, die unerwartet reagieren, die enttäuschen, und wieder andere, denen man den Mut nicht zugetraut hatte. Existentielles, dessen Gründe die Geheimnisse individuellen Seins bargen. Alltägliches Leben der Gegenwart, zum Teil als Kriminalgeschichte und zu einem weiteren Teil mit Menschenschicksalen, die denen aus der Bibel oder der Antike verwandt sind. Die Welt der Nazis ist das KZ mit seinen barbarischen Methoden gegenüber den Häftlingen. Ihre Macht erstreckt sich auf Verordnungen und Gesetze - Pflicht zur Denunziation, Verweigerung von Hilfe - und die Gegenwelt ist das Sich-Widersetzen, Nicht-Befolgen der Verordnungen und damit moralisch-ideelle Überlegenheit. Treue, Würde, Verläßlichkeit, Vertrauen, Freundschaft, Solidarität, und das alles nicht ohne Ängste, Zaghaftigkeit und Versuchung - das ist die eigentliche Gegenwelt, es ist das viel zitierte „Feste“, „Unangreifbare“, „Unverletzbare“, das der Barbarei widersteht. Antifaschismus bei der Anna Seghers des Siebten Kreuzes (und generell?) hat vor allem also eine moralische Dimension, die bei aller detaillierten historischen und politischen Einbettung auf Humanismus setzt. Das mag Krux und Glanzpunkt der Segherschen Texte sein. Anna Seghers hat ihren Glauben an den solidarischen, mitfühlenden, leidenschaftlichen Menschen nie aufgegeben, für sie war er der Kern ihrer Hoffnung auf Veränderbarkeit, ja Lebbarkeit der Welt. Das machte ihre Texte angesichts der Erfahrung und des Schicksals der kommunistischen Bewegung angreifbar und plaziert sie neben Märchen, großen Mythen, Utopien. Wer meint, ohne letzteres müsse diese Welt auskommen, wird Anna Seghers streichen. Wer an Humanismus für die Zukunft festhält, findet bei ihr viel, denn sie verbindet gekonnt Glaube/Hoffnung mit tatsächlicher Lebenserfahrung und Menschenkenntnis.

Die von ihr geschilderte Welt ist kein Phantom, keine Wunschwelt. Zum einen hat sie all das, was sie über Deutschland erfahren konnte, in ihren Texten verarbeitet. Und zum anderen schildert sie den Alltag, das normale ruhige Leben mit Streuselkuchen und Küchentischharmonie, Schäfern und Wein- und Apfelernte. Johannes R. Becher teilt sie 1939 in einem Brief mit: „Unbedingt möchte ich über das ,gewöhnliche Leben` schreiben. In diesem Zusammenhang will ich etwas abzuhandeln versuchen, was bis jetzt von uns noch niemand in Angriff genommen hat: den einfachen Ausdruck unserer lebendigen Gefühle und Empfindungen im Verhältnis zum ,gefährlichen Leben`.“5 Dieses besondere Augenmerk auf den Alltagsfrieden wird sich durch ihr Werk ziehen - vom Küchentisch der Famile Binnet in Transit (1944), über den Schulausflug in Der Ausflug der toten Mädchen (1946) bis zu Gefahren einer solchen Konzeption: Sobald dem „gewöhnlichen Leben“ die innere Spannung bzw. ein zweiter Boden fehlt, gerät es in die Nähe platter Agitation.

Ohne auf Einzelheiten eingehen zu können: Anna Seghers präzisiert und variiert in Arbeiten, die in Mexiko entstehen, ihr Bild vom gewöhnlichen Leben und vom Widerstand gegen den Faschismus. Als sie 1947 nach Deutschland zurückkehrt, hat sie alle ihre Arbeiten mit diesen Themen im Koffer. Der Roman Die Toten bleiben jung wird zwar erst 1949 erscheinen, das aus Mexiko mitgebrachte Manuskript hat in Deutschland wenig Änderungen erfahren. Das heißt: In der Ferne hat sie ihr Bild vervollständigt, aber auch: Diese Schilderungen beruhen in erster Linie auf Vorstellungskraft. Im Roman (Die Toten bleiben jung): Wie Vertreter verschiedener Schichten und Klassen die Entwicklung zum und im Faschismus mitmachten, bzw. verweigerten. In einer Glosse (Die Unschuldigen, 1945): Wie die Deutschen es ablehnen, Verantwortung zu übernehmen und sich selbst Hitler verleugnet. Eine Erzählung (Die Saboteure, 1947) beschreibt konkreten Widerstand in einer Fabrik, eine andere (Das Ende, 1946) hat zum erstenmal einen Nazi als Protagonisten.

Der Roman ist ein Höhepunkt in ihrer Auseinandersetzung mit dem Faschismus, hier verwirklicht sie, was Bloch von seinen deutschen Kollegen gefordert hatte, und beschreibt eine Palette unterschiedlichster (u. a. auch ehrenwerter) Motive, sich den Nazis und dem Nationalsozialismus anzuschließen. Dabei wird sehr knapp am Verhältnis zum Eigentum, zu den Produktionsmitteln das Pseudo-Sozialistische des Nationalsozialismus gezeigt. Wieder bestechen die einzelnen Schicksale. Wieder ihre Erzählerinnen-Weisheit: Warum sich einer so und ein anderer so entscheidet, hat oftmals kaum direkt zusammenhängende Gründe - wie fehlende Liebe in der Familie oder zu wenig Beachtung durch einen Lehrer. Aber eben das ganze Geflecht von sozialen, familiären und individuellen Komponenten ist der Autorin wichtig.

Das Ende - die Geschichte von dem KZ-Aufseher Zillich auf der FLucht ist eine Art Gegenstück zum Siebten Kreuz. Zillich, von keinerlei Skrupeln befallen und allein von einem kreatürlichen Lebenswillen beherrscht, hetzt von Ort zu Ort - aus Angst, daß man ihn erkennt. Es gibt keine menschliche Bindung, keinen anderen Lebenswert als den zu überleben. Sein Tod, den er sich selbst gibt, wird von keinem bedauert, ja sein Sohn freut sich darüber. „Der Junge hatte nichts anderes als Schande und Ekel von seinem Vater erfahren.“ Wieder sind es in erster Linie Vorstellungen von einer Welt, in der Moral/allgemeinster Humanismus letztlich den Lebenswert bestimmen. Der Nazi Zillich erhält übrigens spät - 1977 - mit dem Vietnam-Krieger Gary einen „Bruder im Geiste“. Auch dessen Leben wird keine Spur hinterlassen. „Spur“ = Gedächtnis der Menschheit? = uneigennützige Zuwendung zu anderen Menschen?

1941 hatte sich Anna Seghers über die zukünftige politische Arbeit in Deutschland Gedanken gemacht und wiederum sehr ahnungsvoll vorausgesagt: „Der Prozeß der Entfaschisierung des deutschen Volkes wird durch furchtbare Leiden gehn, durch die Dezimierung der deutschen Jugend, durch die Verzweiflung von Millionen Müttern, durch die grausamsten Erfahrungen, mit denen verglichen die ,Erziehung vor Verdun` eine zarte milde Erziehung war: er wird auch durch Rückschläge gehn, durch bittre Enttäuschungen, durch unermüdliche Geduld, durch sehr viel Zeit, durch den Glauben und durch das Wissen von Veränderungen der Gesellschaft und des einzelnen Menschen. An diesem Prozeß wird jeder deutsche Antifaschist mithelfen. Denn nur dann ist es wirklich.“6

Als Anna Seghers das sagte, waren ihre Mutter, die 1942 auf dem Transport oder in einem Lager in Polen umkam, und ihr Freund Philipp Schaeffer, der 1943 durch das Fallbeil der Nazis starb, noch am Leben. Die „furchtbaren Leiden“, die die Autorin prophezeite, betrafen Antifaschisten, Juden und auch faschistische Mitläufer - „Millionen Mütter“, deren Söhne aus dem Krieg nicht zurückkamen. Als Anna Seghers 1947 den im Land gebliebenen Deutschen begegnete, war sie über deren geistige und moralische Verfassung entsetzt. Das Leid an ihrer derzeitigen Existenz bezogen nur wenige auf das Konto der Nazis, bzw. gar auf eigene Mitschuld. Gemäß ihres sich selbst gestellten politischen Auftrags wollte Anna Seghers alles tun für den „Prozeß der Entfaschisierung“, deshalb blieb sie im Land, deshalb war das andere Deutschland mit Nazi-Richtern und -Generälen überhaupt keine Alternative, deshalb war sie äußerst aktiv in der internationalen Friedensbewegung, deshalb schrieb sie ihre Erzählungen und Romane so, wie wir sie heute kennen und aus heutiger Sicht vielleicht als „gutgläubig“ oder „blauäugig“ belächeln/bestaunen: Immer bemüht um die Suche nach „Lichtpünktchen“. Der junge Nazi (Der Mann und seine Name, 1952), der unter falschem Namen mit falschen Lebensangaben lebte, erhielt Absolution, als er sich im Neuaufbau bewährte und sich ehrlich machte. Wieder: Moral, verquickt mit Alltag und Frieden. Anna Seghers und mit ihr viele der antifaschistischen, aus dem Exil zurückgekehrten Autoren suchten verzweifelt und oft auch verkrampft nach den Zeichen, dem Beleg des bekehrten Menschen, der „anderen besseren Welt“. Anfangs war für sie jeder Lichtpunkt eine „Friedensgeschichte“. Später in ihren Romanen (Die Entscheidung, 1959, Das Vertrauen, 1968) gibt es keinen Protagonisten, dessen gegenwärtiges Handeln nicht im Bezug zu seinem Wirken in der Nazi-Zeit steht. Wie schwer es Antifaschisten in neuen, sie überfordernden Aufgaben haben, ist ein Thema. Daß sie die Macht mißbrauchen könnten - wie sie es vom früheren Gegner kennen -, klingt nur in der zu Lebzeiten nicht veröffentlichten Erzählung Der gerechte Richter an. Die Aufgaben nicht beherrschen - das ja. Vertrauen nicht schaffen - auch das. Anna Seghers gestand sich und ihrer Welt, für die sie gelebt und gearbeitet hatte, ein gänzliches Scheitern nicht ein. Wenigstens die Hoffnung auf das von Grund auf andere mußte bleiben. Ich kann in dieser Haltung sehr wenig „verordneten Antifaschismus“ erkennen, ging es doch vor allem darum, die Gegenwelt - friedlich, solidarisch, antikapitalistisch, in den Wonnen der Alltäglichkeit - schmackhaft zu machen. Das nicht leichte, ja zuweilen im Vergleich zur Buntheit des Westens „graue“ Leben ihrer Helden im Osten und deren humanistisches Wertsystem waren eine Basis, wo sich Erfahrung und Wünsche/Sehnsüchte von Lesern und Autorin trafen. Nachfolgende Autoren wie Heiner Müller oder Volker Braun benannten freilich das Nichtfunktionieren dieser Gegenwelt in der Realität wesentlich schärfer und hatten auf Grund dieser Erfahrung ein anderes Konzept von Literatur.

Als Anna Seghers ihre Ideale und Helden immer weniger in der Wirklichkeit der DDR fand, wählte sie diese aus der Geschichte der Befreiungsbewegungen der Völker und dem Schicksal der „Schwachen“, der kleinen Leute (Die Kraft der Schwachen, 1965). Bezeichnenderweise sind es oft Geschichten von Antifaschisten - die Mutter des Spanienkämpfers (Agathe Schweigert), die Frau, die den Verfolgten verbirgt (Das Schilfrohr). Sie gehört aber auch zu den ersten, die das Versagen im antifaschistischen Widerstandskampf thematisierten, ohne darüber den Stab zu brechen, im Gegenteil: Im Unterschied zur bitteren Realität solcher Schicksale erträumt sie sich einen Märchen-Schluß dank der Wunderkraft von Freundschaft (Der Treffpunkt, 1973).

Am Lebensende wurden ihre Texte immer düsterer und verschlüsselter. Am „Festen“ hielt sie fest, auch wenn sie es nun noch allgemeiner faßt: „In dieser sich ständig verändernden, weiterstrebenden Welt, in der wir jetzt leben, ist es gut, wenn etwas Festes in einem für immer erhalten bleibt, auch wenn das Feste ein unvergeßliches Leid ist. Weil er etwas Schweres erlebte, werden ihm all die Menschen begreiflich sein, die etwas Schweres erlebten. Und dieses ,andere Menschen begreifen` wird seinem ganzen Leben nutzen und auch seiner Arbeit.“ (Überfahrt, 1971) Düster die Beschreibung des Schicksals der Höhlenbewohnerin Toaliina in einer ihrer letzten Erzählungen (Das Versteck, 1980). Sie war in ihrer Jugend aus Angst vor Versklavung ins Meer gesprungen und vegetierte danach ein Leben lang in einer Höhle. Als sie schließlich vom Meer aus der Höhle in den Tod gerissen wird, denkt sie an ihre Kinder und überläßt sich dem Meer: „Sie wußte, ihre Flucht war geglückt.“ Das kann freilich höchst unterschiedlich interpretiert werden. Etwa: Sie blieb sich in ihrem Freiheitsdrang treu. Oder: Allein der Tod erlöst sie. Das ist für eine Lebensbilanz, die Anna Seghers indirekt auch für sich vollzieht - keine frohe Botschaft, eher Verzweiflung mit einem Rest Hoffnung, in einer Generationenkette ein Glied gewesen zu sein.

Anmerkungen:
1 Anna Seghers. Zum Kongreß 1938. In: Sigrid Bock. Anna Seghers. Über Kunstwerk und Wirklichkeit. I Die Tendenz in der reinen Kunst. Berlin 1970, S. 68
2 Anna Seghers. Ansprache in Weimar. Internat. Schrifstellertreffen 1965. a. a. O., S. 153
3 Anna Seghers. Vaterlandsliebe. a. a. O., S. 65
4 Anna Seghers zum Kongreß 1938; ebenda S. 68
5 Anna Seghers an Johannes R. Becher. (27.3.1939) In: Frank Wagner „... der Kurs auf die Realität“. Das epische Werk von Anna Seghers (1935-1943). Berlin 1978, S. 312
6 Anna Seghers. Deutschland und wir. In: Sigrid Bock. Anna Seghers. Über Kunstwerk und Wirklichkeit. I Die Tendez in der reinen Kunst. Berlin 1970, S. 191


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