Eine Rezension von Thomas Keiderling


Buchhandelsgeschichte im elektronischen Suchlauf

Mark Lehmstedt (Hrsg.):
Geschichte des deutschen Buchwesens
Digitale Bibliothek Bd. 26, CD-ROM.
Directmedia Publishing, Berlin 2000, ca. 9000 S.

Pünktlich zum 600. Geburtstag von Johannes Gutenberg sowie zum 175jährigen Jubiläum des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels erscheint eine umfangreiche, digitale Quellensammlung zur Geschichte des deutschsprachigen Buchwesens. Die Ausgabe umfaßt eine Einleitung des Herausgebers Mark Lehmstedt, drei grundlegende Monographien über den Buchhandel im deutschsprachigen Raum, eine Sammelbiographie über deutsche Buchhändler- und Buchdrucker-Eliten des 15. bis 19. Jahrhunderts sowie eine Sammlung mit ca. 1500 Bildern. Es empfiehlt sich, die Nutzung der CD-ROM mit dem Bilderteil zu beginnen, denn hierbei eröffnet sich einem ein einzigartiger Einblick in die „Gutenberg-Galaxis“. Nach dem chronologischen Prinzip geordnet, findet man hier hochinteressante Abbildungen von Büchern, Buchhändlern, Buchhandlungen, Buchfabriken und einigen buchherstellenden Maschinen, die zum Weiterblättern anregen.

In der Einleitung hebt Lehmstedt die Schwierigkeit hervor, den Fachbereich „Buchwesen“ festzumachen, da es diesen „als akademische Disziplin praktisch nicht gibt“. Denn bis heute existiere weder in Deutschland noch international ein einheitlich akzeptierter Begriff von dem, was eigentlich der Gegenstandsbereich einer „Geschichte des Buchwesens“ sein solle. Der Herausgeber nennt daraufhin den „kleinsten gemeinsamen Nenner“ einer „Geschichte des Buchwesens“: die historische Entwicklung von Produktion, Distribution und Rezeption von Schriftwerken. Trotz dieser Minimaldefinition wird anhand der ausgewählten Schriften bald deutlich, daß die CD-ROM eigentlich eine „Geschichte des deutschen Buchhandels“ zum Inhalt hat. - Und so hätte der Titel auch lauten müssen. Die Rezeption ist so gut wie ausgeblendet; die Buchherstellung hätte zumindest durch Heranziehen eines der beiden Standardwerke von Carl Berend Lorck Handbuch der Geschichte der Buchdruckerkunst (1882-1883) oder von Hermann Barge Geschichte der Buchdruckerkunst (1940) verstärkt werden müssen.

Ungeachtet der inhaltlichen Fokussierung auf den Buchhandel ist die Digitalisierung eine höchst verdienstvolle Leistung, und sie kann mit einem dankbaren Publikum rechnen. Während der Leser bislang mühevoll in den originalen Werken nachschlagen mußte, kann er nun mittels technischer Unterstützung in kürzester Zeit nach einzelnen Begriffen, Personen, Textstellen oder Bebilderungen suchen. Der Bildschirm ist ausgesprochen übersichtlich gestaltet, so daß sich die einzelnen Funktionen rasch erschließen. Das „Aufschlagen“ gewünschter „Buchseiten“, die Begriffsuche im Volltext, das Herauskopieren, Vergrößern und Verkleinern einzelner Textstellen oder Bilder benötigt nur wenige Mausklicke. Wenn man die gewünschten Inhalte in eine Word-Schreibdatei kopiert, wird die Quellenangabe gleich mitgeliefert. Diese umfangreiche Serviceleistung wird bei einfacher Handhabung sicherlich zu einer breiten Nutzung beitragen.

Wenden wir uns den digitalisierten Texten zu. Es handelt sich zunächst um das vierbändige Werk von Friedrich Kapp und Johann Goldfriedrich Geschichte des Deutschen Buchhandels. Beide Autoren (Goldfriedrich war übrigens ein Schüler Karl Lamprechts) verfaßten zwischen 1886 und 1913 im Auftrag der Historischen Kommission des Börsenvereins ein Grundlagenwerk, das bis heute durch nichts ersetzt worden ist. Zu Recht weist Mark Lehmstedt auf einige Schwachpunkte hin, die sich nach fast einhundert Jahren weiterer Forschung eingestellt haben. So sind die Befunde Kapps zur Inkunabelzeit und zum Buchdruck des 16. Jahrhunderts in wesentlichen Teilen überholt. Goldfriedrich fehlte in manchen Abschnitten des abschließenden vierten Bandes eine gewisse zeitliche Distanz zum Geschehen und zu den vielfach noch lebenden Akteuren. Dessenungeachtet gehört Kapp/Goldfriedrich noch heute zu den am häufigsten zitierten Werken der Buchhandelsgeschichte. In der digitalen Sammlung ist er nun jederman zugänglich.

Eine weitere Überblicksstudie stammt von Friedrich Schulze: Der deutsche Buchhhandel und die geistigen Strömungen der letzten hundert Jahre (1925), das aus Anlaß des einhundertjährigen Jubiläums des Börsenvereins veröffentlicht wurde. Die Darstellung ist anschaulich, teilweise sogar spannend geschrieben. Schulze, der sich selbst in der Tradition eines Kapp/Goldfriedrich sah, wollte die Geschichte der Branche fortschreiben. Bis zur Jahrhundertwende war ihm dies auch ohne Abstriche gelungen. Bei den Entwicklungen des frühen 20. Jahrhunderts, zumal der Weimarer Republik, traten wiederum Probleme mit der zeitlichen Nähe auf. Insofern stellt das Buch eher eine komprimierte Fassung des vierten Bandes von Kapp/Goldfriedrich dar und ist keine gleichgewichtige Fortsetzung.

Bereits vor der Jahrhundertwende hatte der gelernte Buchhändler Rudolf Schmidt mit seinen Recherchen zu einem umfassenden biographischen Lexikon des Buchhandels und Buchdrucks begonnen. Als Vorlage diente ihm das Biographische Lexikon des Deutschen Buchhandels der Gegenwart, das Karl Friedrich Pfau 1890 im Eigenverlag drucken ließ. Stellte Pfau Informationen zu den Biographien von insgesamt 933 Unternehmern zusammen, so brachte es Rudolf Schmidt in seinem Werk Deutsche Buchhändler. Deutsche Buchdrucker (1902-1908) nach fast 14 Jahren Recherche auf immerhin 4632. Nach dem prosopographischen Ordnungsprinzip nennt Schmidt herausragende Persönlichkeiten. Der Buchhandel ist umfassend, hingegen die Buchherstellung nur zu einem gewissen Prozentsatz berücksichtigt. Der zeitliche Schwerpunkt der Untersuchung liegt auf dem ausgehenden 18. und 19. Jahrhundert, wobei Schmidt besondere Mühe darauf verwandte, die frühen deutschen Drucker-Verleger des 15. Jahrhunderts zu berücksichtigen. Die Digitalisierung des herausragenden Nachschlagewerks von Schmidt macht die CD-ROM zu einem wertvollen Arbeitsinstrument.

Neben den genannten älteren Darstellungen befindet sich das aktuelle Buch von Reinhard Wittmann mit dem Titel Geschichte des deutschen Buchhandels in der Ausgabe. Dies ist eine außerordentliche Bereicherung, wenn man bedenkt, daß die Publikation gerade erst im vorigen Jahr bei C. H. Beck/München zum zweitenmal aufgelegt wurde. Wittmann stellt die heutige Sichtweise auf die Dinge dar und steht wiederum in der Tradition des Klassikers von Kapp/Goldfriedrich. Insbesondere bezieht der Autor, und das ist eine Neuerung, die Autoren und den literarischen Markt punktuell mit ein. Die bereits erwähnte umfangreiche Bildersammlung komplettiert die Gesamtschau auf den Buchhandel. Insgesamt ist die CD-ROM eine lohnenswerte Anschaffung, die zudem noch erschwinglich ist. Und nebenbei sei erwähnt, daß das Programm des Verlages nicht nur für Buchhandels-, sondern auch Literatur- und Philosophieinteressierte ein reichhaltiges Angebot bereithält.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 10/00 (c) Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

zurück zur vorherigen Seite