Eine Rezension von Gerhard Keiderling


Neue Zeitzeugen-Berichte

Jürgen Kleindienst (Hrsg.): Pimpfe, Mädels & andere Kinder
Kindheit in Deutschland 1933-1939.
55 Geschichten und Berichte von Zeitzeugen.
JKL Publikationen, Berlin 1998, 322 S.

ders. (Hrsg.): Täglich Krieg
Deutschland 1939-1945.
41 Geschichten und Berichte von Zeitzeugen.
JKL Publikationen, Berlin 2000, 362 S.


ders. (Hrsg.): Und weiter geht es doch
Deutschland 1945-1950.
45 Geschichten und Berichte von Zeitzeugen.
JKL Publikationen, Berlin 1999, 361 S.


In der Reihe „Zeitgut“ sind neue Bücher mit Geschichten und Berichten von Zeitzeugen erschienen. Es liegen nunmehr neun Bände vor, die einen relativ geschlossenen Überblick über das Alltagserleben mehrerer Generationen zwischen 1914 und 1950 geben (vgl. Berliner Lesezeichen 1/2000); weitere Bände sind geplant. Die Fortsetzung der Erinnerungen trägt dazu bei, ein differenziertes Bild der Noch-Friedens-, der Kriegs- und der Nachkriegszeit zu zeichnen. Es handelt sich um sehr persönliche Erlebnisse und Erfahrungen, die in dieser oder jener Weise prägend für die damalige Generation waren. Früher schon angemerkte Kritikpunkte, wie die Zufälligkeit der Berichte, ihre Stückelung in Einzelbegebenheiten und mangelnde fachmännische Hinterfragung, gelten allerdings auch für die Neuerscheinungen.

In Pimpfe, Mädels & andere Kinder erzählen Menschen von ihrer Kindheit und Jugend in der Hitler-Zeit, als sie im Braunhemd oder in der weißen BDM-Bluse zur Schule gingen, als sie nicht mehr „Guten Morgen“, sondern „Heil Hitler“ sagen mußten, als der Vater nach Jahren der Arbeitslosigkeit die Familie wieder satt machen konnte und als es abseits des NS-Zwangssystems noch viele individuelle Freiräume gab. So dominiert in der Rückschau eine im ganzen unbeschwerte Zeit. Das Schicksal jüdischer Schulfreunde wird manchmal angesprochen, von antifaschistischem Widerstand und Gestapo-Verfolgung ist nur in einem Bericht die Rede. Hierin zeigt sich die Begrenztheit solcher Erinnerungsberichte für die wissenschaftliche Analyse wie auch für die allgemein belehrende Unterhaltung über eine Geschichtsepoche.

Der Band Täglich Krieg macht eine schlimme Zeit lebendig. Die „Hitler-Jungen“ sind ins wehrpflichtige Alter gekommen. Einberufung, Fronteinsatz, Heimatfront, Bombenkrieg, Flucht und Vertreibung sowie Zusammenbruch werden realistisch geschildert. Keine bittere Wirklichkeit wird ausgespart. Es ist die Geschichte einer verführten und dennoch sich mitverantwortlich gemachten Generation, die erst nach dem Zusammenbruch zur Besinnung kommt. Daß die meisten Zeitzeugen die Not nur beklagen und sich selbst als Leidtragende sehen, gehört wohl zum Charakterbild dieser Generation. Wenige bekennen, daß sie den braunen Rattenfängern bedenkenlos folgten und „zäh wie Leder und hart wie Kruppstahl“ sein wollten. Auch in diesem Band kein Wort über das Verhalten der Wehrmacht in okkupierten Ländern, über das Leiden von KZ-Häftlingen und Zwangsarbeitern, denen man ja überall begegnete, und über das stille Heldentum der illegalen Widerstandskämpfer bis hin zu den Männern vom 20. Juli 1944. Ihre Nichterwähnung ist typisch für die Grundhaltung, mit der die übergroße Mehrheit der Deutschen über die nationale Katastrophe im Mai 1945 hinwegkommt: verdrängen und vergessen.

Im Nachkriegsband Und weiter geht es doch setzt sich die unkritische Rückbesinnung fort. Die Zeitzeugen sehen sich als Opfer der alliierten Sieger, vor allem der Russen. Sie kritisieren Handlungen und Zustände, die die deutsche Wehrmacht zuvor den überfallenen europäischen Nachbarn angetan hatte. Wehleidig wird das Nachkriegselend - Hunger und Kälte, Wohnungsnot, Vertreibung, Reparationen - beklagt. Schwarzmarkt und Hamsterfahrten spielen eine große Rolle, die neuen demokratischen Parteien mit ihren Neuordnungskonzeptionen, die Entnazifizierung und die Umerziehung („re-education“) der Bevölkerung hingegen keine. Hat man sie nicht wahrgenommen, war man davon nicht betroffen?

Jedem Band ist eine Zeittafel, ein Ortsregister und eine Kurzbiographie der Verfasser beigefügt. Viele Berichte sind mit eindrucksvollen Fotos aus Privatbesitz illustriert. „Zeitgut“ will einen Beitrag zum Verständnis deutscher Geschichte leisten. Die Rede ist von einem „lebendigen und wachsenden Projekt“, das heißt der weitere Eingang von Erinnerungsberichten wird zu Folgebänden führen. Für die Zeit nach l945 ist das durchaus wünschenswert. Da sich die vorliegenden Bände in Zeit und Inhalt schon sehr gleichen, ist dem Herausgeber eine größere Sorgfalt bei der Auswahl und Zusammenstellung angeraten.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 10/00 (c) Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

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