Eine Rezension von Bernd Heimberger


Das Staunen einer Scheuen

Sarah Kirsch: Werke in fünf Bänden
Herausgegeben von Franz-Heinrich Hackel.
Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2000, 5 Bde. im Schuber


Manchmal ist nur das eine Gefühl. Die Gedichte sind Hymnen, die das Hymen feiern. Die Gedichte der Sarah Kirsch. Verse, die die verlorene Unschuld nie verleugnen. Verse, die sich zugleich nie zu schade sind und sich nicht schämen, die Unschuldsvermutung zu beteuern. Wort für Wort. Die Dichterin hat Glück mit sich. Sie ist naiv, natürlich, neugierig. Die geschulte Biologin kann biologische Regeln außer Kraft setzen. Wieder und wieder macht sie in ihren Versen den Versuch, der Erde, der Welt, dem Leben die Jungfräulichkeit zurückzugeben. Das ist nicht wenig, aber alles, was Sarah Kirsch wirklich will. Sofern sie etwas will. Sofern ihr nicht nur geschieht, was ihr geschieht, wenn sie dichtet. Die Kirsch ist nicht zur Dichterin ihrer Generation geworden. Sie ist die Dichterin einer Generation geworden, die nun ins Alter geht.

Was vor fünf Jahren nicht gelang, ist inzwischen geschehen. Der im April 65jährigen wurde eine Werkausgabe eingerichtet. Oder sollte es heißen verehrt? Sarah Kirsch ist eine Geehrte in der literarischen Welt. Sie hat sich immer auf ihr literarisches Wort verlassen und lebt mit denen, für die das literarische Wort etwas Verläßliches ist. Die Gemeinschaft der sich so Verständigenden und Verstehenden ist nicht groß. Simpel gesagt, die Einschaltquote für Lyrik ist nicht hoch. Es muß also nicht irritieren, daß die Werkausgabe erst jetzt da ist. In fünf Bänden zusammengefaßt, ist die Edition in der stabilen Form von der Deutschen Verlags-Anstalt verlegt worden und in der leichteren Fassung, nicht minder ästhetisch ausgeführt, im Deutschen Taschenbuch Verlag erschienen. Fünf Bände, die einen kaum handbreiten Schuber füllen. Das ist eine der schmalsten Werkausgaben, die in den letzten Jahrzehnten als Werkausgabe ausgegeben wurden. Das sieht nach der nie losgewordenen Scheu einer Schutzlosen aus, die preisgibt, ohne sich preiszugeben. Sich der Schutzlosigkeit bewußt, ohne sie ständig zum Thema zu machen, schützt Sarah Kirsch auf ihre Weise sich und was ihr schützenswert ist. Die Natur. In der ist der Mensch nicht nichts. In der ist der Mensch nicht Beherrscher, nicht Beherrschter, allenfalls Bestandteil der Natur. „Wie Natur auf ihre Art sich uns / Mitteilt ...“, teilt sich Kirsch auf ihre Art der Natur mit, um über die beziehungsreiche Bindung Natur-Mensch zu sprechen.

Kaum zu zählen ist, wie viele Sommer-und andere-Sonnen-Weltuntergänge Kirsch in wie vielen Abend-Fluß-Gründen gesehen hat. Sehend ist sie selbst zur stutzenden, stotternden Katze geworden, wenn sie „Abschiednehmende Welt“ wahrnimmt, „deren Verdienst es ist das / Grün zu verspotten ...“: das lebenswichtige Chlorophyll. Sich den fortgesetzten Entzauberungen widersetzend, stellt die Dichterin wieder und wieder fest: „Wie verzaubert ich bin ...“ Sie ist ich, wo und wenn sie mit dem Stein spricht. Das muß ihr erst einmal einer nachmachen! Heute! Da viele die Geduld und das Gehör der Kirsch nicht mehr haben, halten sie sich an ihre Gedichte, die den Glauben erhalten, verzaubert zu sein. Das bedeutet, einbezogen zu sein in den Zauber des sprechenden Steins. Die Gedichte der Sarah Kirsch sind Erinnerungsreisen des Herzens, das das Herz gesehen hat. Nachts lassen sie Morgenlicht aufleuchten, morgens die Dunkelheit sich ausbreiten. Alles, wie auch immer es ist, ist voller klingender „Zaubersprüche“. Die Dichterin staunt. Auch über ihre Sprüche und deren Zauber. Staunt über die Entzauberten, die den Zauber bestaunen: Soweit die Zauberin den Horizont spannt. Hinterm Horizont ist, was immer ist, die Hölle der Erde. In der sind Gedichte auch nur Brennmaterial fürs Feuer. Die Gedichte der Sarah Kirsch können sein wie Schneeflocken auf einem erhitzten Gesicht, auf dem sie schnell ihre Urform annehmen. Was bleibt, ist die Berührung. Welche Verwandlung auch immer sich vollzieht.

Wie in dieser das Werk bestimmenden Werkausgabe? Die nennt zwar einen Herausgeber, wird jedoch von keinem vor- oder nachgesetzten Wort flankiert - die „Editorische Notiz“ unberücksichtigt gelassen -, das Orientierung gibt zu Werk und Verfasser. Das Werk ist alles! Alles ist das Werk! Die Ausgabe ist ein Diktum der Dichterin. Das Unantastbare ist angetastet. Ungeachtet dessen ist sie eine exakte Chronologie des Geschriebenen. Mit drei Bänden haben die Gedichte einen geringen Vorsprung. Einiges von dem, was in den Prosa-Band II aufgenommen wurde, haben Rezensenten vor gar nicht so langer Zeit als Lyrik gelesen und vorgestellt. Von Irrtum, Korrektur, Verwandlung reden? Reden vom Erzählerischen im Poetischen, vom Poetischen im Prosaischen? Reden von der Kontinuität, das heißt von dem Leben mit der Natur und dem Bekenntnis zu ihr? Davon wäre am ehesten zu sprechen, weil das der Biographie der Sarah Kirsch die Linie gab. Kaum zu glauben, daß die Dichterin mal in einem Wohnsilo der Berliner Fischerinsel (!) wohnte. Punkt um Punkt wird die biographische Linie in der Werk-Chronologie farbiger wie in einem impressionistischen Bild. Ein hinschubsender Hinweis wie „Erzählungen aus der ersten Hälfte meines Landes“ ist die Ausnahme. Kisch-Vertraute wissen sofort, was gemeint ist, und werden nach Texten des DDR-Tonband-Protokollbuches Die Pantherfrau Ausschau halten. Vergebens! Der eine oder andere mag's bedauern und andererseits mit Freude feststellen, daß im Band I mehr „DDR“-Gedichte auftauchen, als Elke Erb berücksichtigen konnte, als sie vor einem knappen Vierteljahrhundert eine „erste Bilanz“ des lyrischen Gesamtwerks wagte. Anno 1977 für eine Mark fünfzig zu haben, war der Band Musik auf dem Wasser mit einer Farbstiftzeichnung von Christoph Meckel versehen. Nunmehr läßt es sich die Dichterin nicht nehmen, als Einbandgestalterin aufzutreten. Auf bestem Papier gedruckt, leuchten in der Werkausgabe zudem sechs Aquarelle der Poetin auf. „Meine schönsten Akwareller sind weck“, schrieb Sarah Kirsch in ihrem letzten Prosabuch. Nun sind, auch in der Werkausgabe, einige wieder aufgetaucht. Als Werk zum Werk sozusagen. So was möchten treue Leser auch mal sehen von ihrer Dichterin. Es ist soweit!


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 10/00 (c) Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

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