Rezension von Dorothea Körner


Haarsträubende Geschichten

Joe Fiorito:
Die Stimmen meines Vaters
Aus dem Englischen von Sigrid Ruschmeier.
Alexander Fest Verlag, Berlin 2000, 375 S.


„Mein Vater war Tanzkapellenmusiker in einer Stadt mitten in der Wildnis. Und heiß umschwärmt. Alle kannten seinen Namen. Fünfzig Jahre lang spielte er in Bars, Versammlungslokalen und kleinen Tanzschuppen Posaune, Banjo und Baß ... Er war ein Star. Wir waren bettelarm. Dusty (Name des Vaters, D. K.) war Musiker, Künstler, und wir brachten Opfer.“ Joe Fiorito - kanadischer Journalist mit Kultstatus und Enkel italienischer Einwanderer - zeichnet in diesem Buch das Porträt seines Vaters, eines wilden Kerls, der dennoch kindlich und sehnsüchtig war, eines Briefträgers und Hobbymusikers, dessen unwiderstehliche Stimme die Menschen verzauberte, eines Säufers und Jähzornigen, der den Unterhalt seiner Familie versoff, seine Frau beinahe umbrachte, die Kinder in Angst hielt und sie gleichzeitig zärtlich liebte, eines Mannes mit Todesanwandlungen, der Kälte und Grausamkeit erlebt hatte, und eines hervorragenden Geschichtenerzählers. „In gewissem Sinne war er berühmt. Jeder kannte ihn mit Namen, die Leute blieben stehen und begrüßten ihn, die Frauen machten ihm von der anderen Straßenseite her schöne Augen.“

In diesem autobiographischen Buch begleitet der Sohn in einundzwanzig Nachtwachen das Sterben seines Vaters auf einer Krebsstation. Wenn es die Kräfte des Kranken zulassen, bittet er ihn, sich der alten Familiengeschichten zu erinnern, der zwielichtigen Motive ihrer Einwanderung aus einem armen Abruzzendorf, der „Heldentaten“ in der neuen Heimat. Da der Vater „sich beim Erzählen der alten Geschichten wieder jung fühlt ..., schicke ich ihn zurück in seine Vergangenheit. Ich geleite ihn, ich treibe ihn an, ich schiebe ihn in die hellsten Ecken seiner ältesten Erinnerungen.“ Eine scheue Zärtlichkeit verbindet Vater und Sohn, die sich bisweilen mit einem halben Wort, einer Geste verständigen. Joe Fiorito hat mit seinem Vater längst Frieden geschlossen. „Als Teenager hörte ich nicht mehr hin: weil ich nur noch wütend auf ihn war und ihn ohnehin für den letzten Dreck hielt mit seinem endlosen Geschwätz von den Mythen unserer Ursprünge, dem Geflüster von uralten Morden und den Erlebnissen derer, die lange vor meiner Geburt gestorben waren.“ Jetzt ist der Sohn Nacht für Nacht Augenzeuge der Schwäche und der Schmerzen des Vaters, dessen Stolz sich gegen das „Todesurteil“ wehrt, er beobachtet die sterbenden alten Männer auf der Station, die noch flirten oder zu fliehen versuchen, die gleichgültige Perfektion der Krankenschwestern.

In dieser Tristesse erinnern sich Vater und Sohn wieder der haarsträubenden, herrlichen, zwielichtigen Geschichten ihrer Familie. „Die alten Geschichten waren das Fundament, auf dem die Familie ruhte, sie waren der Stoff, aus dem wir alle gemacht waren - mein Vater, meine Onkel, meine Cousins. In einem Anfall von Wut hatte mein Großonkel einen Mann umgebracht; mein Vater und seine Brüder waren jähzornig, impulsiv und unberechenbar... Manche Geschichten waren unglaubwürdig wie Opern.“ Dusty kannte die Familiensaga in- und auswendig. „... wann immer er mir erzählte, was er wußte, erzählte er es auf ein und dieselbe Weise. Ich vertraute dem Klang seiner Stimme; wenn er ins Stocken geriet, fing er von vorn an, bis er den Rhythmus wiedergefunden hatte. In der Wiederholung lag ein Zauber.“

Aus Sorge um seinen betrunkenen Vater hatte Joe bereits als Kind auf dessen Heimkehr gewartet und ihm nachts die alten Geschichten entlockt. Sie waren die einzige „Mitgift“ eines Nachkommen von Einwanderern. Der Junge fragte sich, wieviel Italienisches in ihm steckte. Vermutlich nichts. Aber seine Onkel sangen, sie kelterten Wein und kochten, wenn sie Lust dazu hatten. „Meine Spielkameraden waren Engländer, Iren, Slowaken und trotzdem durch und durch kanadische Jungs; einerseits gehörte ich zu ihnen, andererseits nicht. Ich wußte nicht, wie man das anstellte: dazuzugehören.“ Er wuchs in dem Bewußtsein auf, einen Makel zu haben - den verheimlichten Mord seines Großonkels - und einer Rasse anzugehören, die nur wenig über Indianern und Schwarzen stand: „Itaker“ oder „Spaghettifresser“. Seines Aussehens wegen wurde er in der Stadt sofort als Fiorito erkannt, als Angehöriger dieses verwegenen Geschlechts. Unbekannte drohten ihm Prügel an, andere - ebenfalls Unbekannte - schlugen sich für ihn. Als er in einer städtischen Werkstatt zu arbeiten begann, schwärmten die Kollegen von seinem Großvater: „Matteo, dieser Teufelskerl, der konnte mit den Zähnen Nägel aus einem Brett herausziehen und Draht durchbeißen.“

Der Autor weiß, daß kaum ein Einwanderer seine Heimat freiwillig verlassen hat. In Kanada sprachen die Menschen eine eigenartige Sprache und hatten befremdliche Sitten. Aber hier konnte ein Mann Arbeit kriegen und darauf bauen, daß seine Kinder am Leben blieben. Großvater Matteo, der wie jeder Einwanderer 160 Morgen Land erhielt, später in die Stadt zog, für seine Familie ein Haus baute und sich fast zu Tode schuftete, hinterließ sieben kräftige Söhne und fünf kluge Töchter.

Eine der grotesken Geschichten, die in diesen Krankenhausnächten erzählt bzw. erinnert werden, ist die langjährige Fehde der Fioritos mit ihrem katholischen Gemeindepfarrer Corrigan. „Corrigan mochte die Italiener nicht. Insbesondere die Fioritos konnte er nicht leiden. Er hatte sich geweigert, meinen Onkel Tony zu beerdigen, der als Atheist aus den Schützengräben Frankreichs zurückgekommen war; er haßte meinen Onkel Dave, den kommunistischen Freidenker, meinen Onkel Dominic, den Sittenstrolch, meinen Onkel Frank, den kämpferischen Gewerkschafter, und mit seiner Verachtung für meinen Vater, der die Nächte durchmachte, Frauen und den Alkohol liebte, hielt er erst recht nicht hinterm Berg.“ Was Dusty besonders ärgerte, war die Heuchelei des Pfarrers, der selbst ein Säufer war, sich aber bessere Sorten leisten konnte und die Messe im Gottesdienst schamlos mißbrauchte. „Dusty trank Alberta Premium, den billigsten Whisky im Laden, und wenn er richtig pleite war, Old-Sailor-Portwein. Aber Peng-peng-Corrigan genehmigte sich Meßwein zum Frühstück und Johnnie Walker Black zum Abendessen.“ Als Joe auf die High-School gehen sollte, gab es für die Fioritos, die das Schulgeld nicht aufbringen konnten, nur die Möglichkeit, den Pfarrer um ein Darlehen zu bitten. „Mein Vater steckte in einem Dilemma. Ich war gescheit, und er wollte das Beste für mich, doch er weigerte sich, den Hut in der Hand, im Pfarramt vorstellig zu werden. Zu einem Priester, der es abgelehnt hatte, seinen Bruder zu begraben, der die Beerdigung seines Vaters verdorben und die Italiener der Gemeinde als Geizkragen verteufelt hatte, ging er nicht betteln.“ Wie der Sohn dann selbst ins Pfarrhaus gehen mußte und Corrigan ihm stumm einen Scheck ausschrieb, gehörte zu den Alpträumen der Familie.

Dusty erzählt nachts, wie Onkel Joe seinem Pferd aus Versehen den Fuß abschlug, ihn wieder annähte und das Tier während des Heilungsprozesses wochenlang aufhängte. Wie Onkel Joe in dem Glauben, Hasenbraten zu essen, eine Katze verspeiste. Wie sein ältester Bruder Tony, „ein bildschöner junger Mann, klug, nachdenklich, immer zum Scherzen aufgelegt, offen und geradeaus“, im Ersten Weltkrieg zweimal verschüttet wurde und geisteskrank zurückkehrte, aber pfiffig und intelligent genug war, um heimlich im Wald Schnaps zu brennen und mit einem Geniestreich die Polizei zu hintergehen. Wie Bruder Frank als Gewerkschafter und Kapitänsmaat auf den großen Seen Ansehen erwarb, dann aber mit einem Trickkünstler und Falschspieler durch die Gegend tingelte und Schande über seine Familie brachte. Vater und Sohn erinnern sich gemeinsam, wie Dusty den Hund seines Sohnes verkaufte und das Tier, das die Gabe hatte zu lächeln, im Fernsehen auftrat usw. - Dustys Lieblingsfluch „Halleluja“, den er schmetterte, ehe er den Ledergürtel aus seinem Hosenbund zog und seine Kinder vertrimmte, hallt durch dieses Buch. Und man erfährt, wie man sich von stolzer Männlichkeit auf dem Sterbebett verabschieden sollte: „Halt die Ohren steif, alter Kämpe!“

Der Charme dieser Geschichten, die von Witz und Unbesonnenheit, Armut und Gewalt, Demütigung und wundergläubiger, kindlicher Naivität erzählen, läßt sich nicht wiedergeben. „Joe Fioritos grandioses Buch gehört mit Frank McCourts Die Asche meiner Mutter und Philip Roths' Mein Leben als Sohn auf ein und dasselbe Regalbrett“, urteilt Mordecai Richler ( siehe Schutzumschlag). Dem ist wenig hinzuzufügen. Höchstens, daß Frauen in diesen Erzählungen keine Rolle spielen und daß die Fioritos als Ehemänner unmöglich waren.

Dusty Fiorito (geb. 1917), dem dieses Buch gewidmet ist, starb am 2. Juni 1995.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 10/00 (c) Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

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