Eine Rezension von Gudrun Schmidt

Wohlstandskinder

David Wagner. Meine nachtblaue Hose
Roman.
Alexander Fest Verlag, Berlin 2000, 185 S.


Eine Hose ist offenbar ein Kleidungsstück, um das sich wunderbar fabulieren läßt. In Sternheims gleichnamigem Theaterstück sorgt eine im unpassenden Moment fallengelassene Hose für Turbulenzen und überraschende Wendungen. In David Wagners Debütroman geht es dagegen gemächlich zu. Da wird eine nachtblaue Hose zum Erinnerungssymbol, mit dem der Ich-Erzähler in verschiedene Zeiten und Räume eintauchen kann.Wie in einem Labyrinth nimmt er dabei immer neue Spuren auf, die in die Kindheit führen. Mitunter verheddert er sich dabei, verharrt allzu lange an einigen Punkten, aber ein unsichtbarer Ariadne-Faden führt ihn immer weiter.

Was macht diese Hose zu etwas Besonderem? Ist es die Tatsache, daß die Mutter (und nicht er; hier irrt der Klappentext) das gute Stück mit dem „weichen Innenfutter“ einst in London gekauft hat? Oder liegt es daran, daß er sie trug, als die Geschichte seiner Liebe mit Fe begann? Vielleicht hat es auch einfach damit zu tun, daß jeder ein Kleidungsstück hat, das so vertraut geworden ist wie eine zweite Haut. Es kann Geborgenheit geben und es kann etwas verbergen. Die Farbe Nachtblau läßt alles in einem weichen, milden Licht erscheinen, bringt die Phantasie zum Schwingen.

In der Tat passiert in David Wagners Roman nicht viel an äußerer Handlung. Der Erzähler und seine Freundin Fe fahren von Berlin, wo beide studieren, an die Orte ihrer Kindheit – nach Köln bzw. Bonn. Dort sind sie aufgewachsen. Wohlstandskinder. Die Väter Chefarzt bzw. Ministerialbeamter. Einfamilienhaus und Einbauküche. Einzelkinder. Gebildet, wohlerzogen. Die Dinge sind im Maß, vorgezeichnet ist der Weg zu den Besserverdienern. Doch hinter der heilen Fassade schimmert's brüchig. Einsame Kinder, nur den Hund als Spielgefährten, „ferngesteuert“ von Eltern, die an ihrer Karriere basteln oder nach Selbstverwirklichung suchen. Ehen gehen in die Brüche oder bleiben erhalten, weil eine Scheidung zu teuer würde. Der Schein zählt mehr als Sein. Manchmal wünscht sich der Junge, daß etwas passiert, möchte das Haus anzünden oder mit einem Zauberring die Zeit vorwärtsspulen. Er kann seine Nase bluten lassen, wenn es ihm unbehaglich wird.

Kinder sind das Röntgenbild der Familie, sagt eine Spruchweisheit, und wenn die Familie die kleinste Zelle der Gesellschaft ist, gibt David Wagner mit seiner akribischen und psychologischen Beschreibung zugleich ein Zeitbild bundesdeutscher Wirklichkeit der siebziger und achtziger Jahre. Über allem liegt ein Hauch von Melancholie, Agonie, Endzeitstimmung. Der Vorrat an Utopien ist aufgebraucht. Neue nicht in Sicht. Was bleibt einem 68er-Vater, zu dessen Politiker-Beruf es gehört, alles schönzureden, als alte Uhren zu sammeln und mit Hingabe Marmelade zu kochen, um den „verlorenen Geschmack seiner Kindheit“ wieder zu schmecken. Immer intensiver drängt Vergangenes hervor. Eine Kindheitserinnerung des Erzählers auch, wie er in Bildern von Hitlers Reichsparteitag in Nürnberg in der Masse der Gesichter das seiner Großmutter oder seiner Tante sucht.

Kunstvoll hat David Wagner die verschiedenen Erzählebenen verknüpft. Erzählt wird eine Kindheits-, Familien- und Liebesgeschichte. Welten liegen zwischen den Bonner Jahren und der Studentenzeit im Berlin der 90er Jahre. Oder auch nicht. Der junge Mann bleibt weiter kontemplativ. Es gelingt ihm nicht, sich aus seiner „Verpuppung“, aus dem „Kokon von Kunststoffkindheit, Nutellakindern, Niveatöchtern“, seinem „eingeschweißten westdeutschen Leben“ zu lösen. Nur einmal versucht er einen Ausbruch, geht zu einer 1. Mai-Demo nach Kreuzberg. Aber auf halbem Weg kehrt er um. Sein Zorn „dauerte nie lange, alles verschwand unter dem großen Egal“. Nie hatte er „auch nur das geringste Bedürfnis, für oder gegen irgend etwas mitzumarschieren“. Allein das Wort „marschieren“ erinnerte ihn „an große Zeiten, an die der Eltern und vor allem an die der Großeltern. Mit Fe, einer Ethnologie-Studentin, die in einer Friedrichshainer WG lebt, öffnet sich zwar der Blick auf das gegenwärtige Berlin. Doch die Liebe scheitert. Beide sind einander zu ähnlich.

Er könne seinen Helden selbst nicht so richtig leiden, weil er wie unter einer Glasglocke steckt, bekannte David Wagner bei einer Lesung. Am Ende trennt sich der junge Mann von seiner alten, abgetragenen nachtblauen Hose. Ist er ein anderer geworden? Vielleicht. Veränderung beginnt mit dem Erkennen des veränderungswürdigen Zustands.

David Wagner, Jahrgang 1971, ist mit diesem Roman ein bemerkenswertes Debüt gelungen. Er schreibt in einer Sprache, die man bei einem jungen Autor nicht unbedingt erwartet, und bisweilen ist sie gewöhnungsbedürftig – mit dem nahezu absatzlosen Text, mit den in Kommata eingeschlossenen Nebensätzen, die beständig neue Erinnerungsspuren aufnehmen. Aber er kann erzählen, richtig gut erzählen.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 10/00 (c) Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

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