Eine Rezension von Dorothea Körner

Vom Zerfall einer Familie

Anke Velmeke: Luftfische
Roman.
C. H. Beck, München 2000, 156 S.


Junge Autoren zwischen dreißig und vierzig befassen sich heute vielfach mit ihrer Kindheit in den sechziger und siebziger Jahren, so auch die 1963 in Olsberg geborene Anke Velmeke, die heute bei Wiesbaden als Autorin und Übersetzerin lebt. Nach Kurzgeschichten und Erzählungen, für die sie zahlreiche Preise erhielt, legte sie mit Luftfische ihren ersten Roman vor. Das Buch entstand während ihres Aufenthalts in Berlin als Stipendiatin des Literarischen Colloquiums und wurde von der Lyrikerin Ursula Krechel betreut.

Anke Velmekes Buch ist radikal. Es erzählt vom Zerfall einer Mittelstandsfamilie, einem gewalttätigen, autoritären Vater – er ist Dachdeckermeister mit eigener Firma und also der „Boß“ – und seiner infantil-abhängigen Frau, die sich ängstlich im Haus vergräbt, lebensuntüchtig, neurotisch und zigarettensüchtig wird. „... als Boß mußte man klare Prinzipien haben, Verantwortung, Gerechtigkeit, Firmenloyalität, aber die hatte er und war überhaupt die ideale Führer- und Unternehmerpersönlichkeit“, charakterisiert die Autorin den Vater, während die Mutter, die Haus-Frau, dem Haus gehörte, „das sie nicht mehr hinausließ, Fenster und Türen hatte es zugesperrt, die Wände rückten enger zusammen, das Haus umschloß die Frau wie eine zweite, weite Haut, in der sie herumgehen, aus der sie hinausschauen konnte, mehr nicht ... das Draußen war ihr versperrt“.

Zur Familie gehören auch der arglos-linkische Sohn Hannes, dessen Ungeschick den Vater reizt, der routinemäßig von ihm geschlagen und von der Mutter vernachlässigt wird, der jüngere Sohn Paul, der sich selbst oft in Gefahr bringt und gerettet werden muß, und die dreizehnjährige Tochter Lene, die sich als einzige gegen den Vater auflehnt, die den Mut hatte, ihn schmerzhaft zurückzutreten, als er sie schlug.

Lene, des Vaters einstiges Lieblingskind, die nicht mehr mit ihm spricht, ihn einfach nicht wahrnimmt, sich von ihm befreit hat, in ihren eigenen Koordinaten lebt, steht im Mittelpunkt des Romans. Sie ist die Vertraute und Gefährtin der Abenteuer ihres Bruders Hannes, die große besorgte Schwester des kleinen Paul, die ihm beispringt, wenn es die Mutter nicht wagt. Sie ist die Freundin ihrer Mutter, die diese aus ihrer Lethargie herausreißt. Der Roman beschreibt sehr genau das Lebensgefühl einer Pubertierenden, ihren Mut und ihren Unabhängigkeitsdrang, ihre Aufsässigkeit und ihren Haß, ihren Spott und ihren Spaß, ihre Gleichgültigkeit und ihre Solidarität. Auch das Verhältnis zum Vater ist ambivalent, ihr Privatkrieg mit ihm hat auch eine amüsante, spielerische Seite. „So schlimm war er eigentlich gar nicht und Feuerwehrmann und ein bißchen stolz waren sie ja schon auch sogar auf ihn und Lene fand ihn im Grunde genommen überhaupt nicht so richtig übel. Zumindest war er ihr gleichgültig, und dann sprach sie ja nicht mehr mit ihm und er netterweise auch nicht mit ihr, ließ sich von ihr zum Fremden machen, widerstandslos, ein Körper, der im Weg stand, um den man herumgehen mußte, wenn er sich nicht selbst fortbewegte, der aber ansonsten kaum störte.“ Fast leitmotivisch wird erzählt, wie Hannes und Lene, die „Dachdeckerkinder“, sich leicht und schwindelfrei auf Dächern und Mauern bewegen, auf Kirchtürme klettern, sich von Dächern abseilen, den Rand am Abgrund suchen, mit der Gefahr spielen, schlafwandlerisch in großen Höhen zu Hause sind. Darin ihrem Vater ähnlich, der später als einziger Feuerwehrmann die ausgefahrene Leiter besteigen wird, um die Bewohner eines brennenden Hauses zu retten.

Eine der schönsten Szenen spielt im Badezimmer des Hauses, das abschließbar ist und aus dem der Vater ausgesperrt ist. Hier sind die Kinder mit der Mutter zwanglos zusammen, hier wird gelacht, erzählt, ein Sieg über den Vater ausgekostet, während sich die Mutter entkleidet und duscht. Zu den heiteren Familienritualen gehört auch das Ohrenwackeln des Vaters, das er hin und wider vorführt, oder ein Anschlag der Kinder auf dessen Bauchnabel, den sie – während er auf dem Sofa liegt – mit Sprudel füllen.

Eigenartig gebrochen, beinahe teilnahmslos wirkt das Verhältnis der Frau zu ihren Kindern: „Alle dieselbe Sorte, ... die ließen die Haare im Waschbecken liegen, aßen die letzte Schokolade weg, nahmen das Telefon nicht ab, kauften zu wenig Zigaretten, stahlen dabei noch Geld aus dem Portemonnaie und stritten schließlich alles ab.“ Daß ihre Abneigung gegen Hannes die Mutter aber so weit treibt, daß sie ihm Asche ins Bett kippt und ihn tagsüber nicht ins Haus läßt, war mir nicht nachvollziehbar. Die Frau hatte den Dachdecker einst geheiratet, weil sie ein schönes Paar waren, wie Filmschauspieler aussahen. Dann bekam sie die Kinder – und er die Firma (seiner Eltern). Er brauchte zu Hause Ruhe, während sie sich mit den schreienden Kleinkindern abgeben mußte. Als der Dachdecker mit Enthusiasmus beginnt, ein neues, geräumigeres Haus für die Seinen zu bauen, ist die Entfremdung zwischen ihm und der übrigen Familie bereits so weit fortgeschritten, daß sich niemand für den Neubau interessiert. Das Haus bleibt jahrelang als Rohbau stehen, „auf den Fenstersimsen wuchs das Moos, die Dachrinnen lockerten sich, im frischgedeckten Dach fehlten schon die Ziegel“, zuletzt mußte es unter Wert verkauft werden.

Im letzten Teil des Buches ist der halbwüchsige Hannes bereits ausgezogen, der Vater wohnt separat im äußersten Teil des alten Hauses „mit Fernseher, Kühlschrank, Klo“ und hat eine Geliebte. Das Haus wird schließlich abgerissen, es muß einer neuen Straße weichen. „Frau, Kinder und Mann tippten, wenn sie zufällig vorbeikamen, manchmal die Grundmauern mit dem Fuß an. Zum Glück waren sie schon vorher ausgezogen, nacheinander, jeder für sich, mit kleinen Transportern ...“

Das Abgestumpfte, Sinnlose dieses Miteinanderlebens, in dem nur hin und wieder Spaß und Ursprünglichkeit aufflackern, das von der dreizehnjährigen Lene lediglich mit Hilfe bewußter Verfremdung ertragen wird, schildert Anke Velmeke sehr eindrücklich. (Im letzten Teil schienen mir die Episoden allerdings nicht immer ganz verständlich und stringent zu sein. Was ist das für eine Rolle mit rosa Plastiktüten, die Lene ihrem Vater schenkt? Weshalb spricht sie plötzlich wieder mit ihrem Vater, obwohl sie sich doch offensichtlich bis zuletzt nicht mit ihm aussöhnt?) Die genaue Beobachtungsgabe der Autorin, ihre Bilder und ihre sprachliche Intensität führen zu stellenweise sehr dichten Passagen und verleihen dem Buch gedanklichen Reichtum und literarische Qualität. Anke Velmekes Prosa erfordert konzentriertes Lesen, wirkt manchmal freilich auch leicht angestrengt und ermüdend. „Der Zeigefinger der Frau schwebte quer unterm Wasserhahn, sie hielt ihn darunter; das Wasser umfloß den Finger, der schon ganz rot war. Der Wasserstrahl wurde vom Finger verbreitert und floß unten wieder zusammen, zu mehreren Strahlen, die auf dem Spülenboden umherspringende Wasserkreise warfen ... Der Strahl brach ab, Stille drang von überallher ins Waschbecken, füllte sofort den ganzen Raum.“ – Insgesamt ein Buch, das beeindruckt, auch wenn der Leser bei der Lektüre nicht unbedingt fröhlicher wird.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 10/00 (c) Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

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