Eine Rezension von Dorothea Körner


Das geteilte Berlin – Farce und falsche Utopie

Philip Hensher:
Die Stadt hinter der Mauer
Roman.
Aus dem Englischen von Ruth Keen.
Argon Verlag, Berlin 1999, 355 S.


„Kreuzberg war ein Ort, über den man vielleicht mehr sprach, als daß man ihn bewohnte, ein Bezirk, den die meisten Deutschen besser kannten als ganze Städte, die doppelt so groß waren; er war eine ausgebleichte Hexe von einem Ort, eine ausgebleichte Hexe aus einem Märchen, die den braven blonden Kindern aus dem Westen Angst und Schrecken einjagen sollte und sie statt dessen offenbar nur in ihren Bann zog.“ – Der Roman Die Stadt hinter der Mauer von Philip Hensher (geb. 1965), einem jungen Engländer, der in Berlin und London lebt, spielt im geteilten Berlin des Jahres 1989.

Die Personage ist überschaubar: Im Mittelpunkt steht der junge Aussteiger Friedrich Kaiser, der vor dem Wehrdienst und der finanziellen wie menschlichen Katastrophe, die seine Eltern getroffen hat, von Köln nach Berlin geflohen ist. Er wohnt in der Kreuzberger Oranienstraße und jobbt an einigen Nachmittagen in einer Buchhandlung. Nachts hockt er in Kreuzberger Kneipen; die Vormittage verschläft er. Dann gibt es Daphne – eigentlich Charlotte – aus Cloppenburg, Studentin der Literatur, mit anarchistischem Outfit und spießbügerlichen Eltern, die bei ihrer Tante in Charlottenburg wohnt, einer linken Aktionsgruppe angehört und sich regelmäßig an klassenkämpferischen Ausschreitungen beteiligt. „Daphne war gegen soziales Unrecht. Sie engagierte sich für Kaninchen, die zum Rauchen gezwungen wurden, und gegen Atomenergie und Pelzmäntel, sie setzte sich für die Eingeborenen Papua-Neuguineas ein, und was auch immer.“ In Berlin demoliert sie zusammen mit ihrem Freund und politischen Kampfgefährten Mario schicke Geschäfte und Cafés. Mario – eigentlich Egon Lenz –, ebenfalls Student der Literatur, aus der DDR geflohen, wo man ihn zum Profi-Radsportler ausgebildet hatte, und – wie sich später herausstellt – Stasispitzel, schreibt Berichte über Daphne und betreut unter anderem RAF-Attentäter vor ihrem Übertritt in die DDR. Die vierte Person im Quartett ist der ebenfalls in Westberlin ansässige Engländer Peter Picker, ein Homosexueller, der mit seinem dreijährigen Sohn zusammenlebt, keiner geregelten Tätigkeit nachgeht, auf allen öffentlichen Empfängen Westberlins erscheint, die vielfältigsten Informationen über die Stadt sammelt und sich gern journalistisch oder schriftstellerisch betätigen würde. „Ich versuche herauszufinden, wie die Welt funktioniert. Und ich habe Leute kennengelernt und will noch mehr Leute kennenlernen, von denen ich meine, daß sie wissen, wie die Welt funktioniert. Und wie die Dinge sich verändern. Das auch“, erklärt er Friedrich auf einer Vernissage in der Neuen Nationalgalerie.

Friedrich, Daphne und Picker haben sich in der Silvesternacht 1988/89 auf einer abenteuerlichen gemeinsamen Autofahrt von Köln nach Westberlin kennengelernt. Im darauf folgenden Frühling unternimmt es Picker, der Ostberlin nie betreten hat, durch einen Operetten-Coup die DDR zu stürzen. „... ich würde die DDR wirklich abschaffen. Ich finde sie absolut widerwärtig, und ich verstehe überhaupt nicht, warum niemand Abscheu über die Tatsache empfindet, daß halb Europa so leben muß“, erklärt er Friedrich. Picker mokiert sich über „all die Intellektuellen, die es sich im Westen gutgehen lassen und behaupten, daß der Osten eine viel bessere Gesellschaftsordnung sei, obwohl sie natürlich selber nie dort leben würden“. Er leidet unter den liberalen Zeitungen Westberlins, die „niemandem zuhören wollen, der offensichtlich die Wahrheit sagt, daß nämlich Westdeutschland funktioniert und Ostdeutschland nicht“. Friedrich, der ab und an Ostberlin besucht, „gab allerdings nie zu, daß ihm die DDR hin und wieder nicht gehirnamputiert, sondern friedlich vorkam, unschuldig, richtig, nicht kaputt wie Kreuzberg“. „... hier war eine erwachsene, nüchterne Stadt, mit soliden Oberflächen und angenehmen, großen, belastbaren Plätzen, grau und braun und weiß, die nicht zu unterhalten oder zu flirten versuchte.“ Während seines Aufenthalts in Treptow spielt er für einen Augenblick mit dem Gedanken, in Ostberlin zu bleiben. „Wie stark war die Versuchung, sich nützlich zu machen, und wieviel Glück bot die Erkenntnis, daß auch er ein nützliches Leben führen könnte ... eine kleine Zweizimmerwohnung und eine Frau; und ein Kind. Der Staat würde sich um das Kind kümmern. ... Das Gefühl, das Richtige zu tun, wenn er das alles hinter sich ließ, all die unbegrenzte illusorische Freiheit, und nie – nie in der Lage dazu zu sein –, zu der Verantwortung, den Erinnerungen, dem Leiden zurückzugehen ... Gedanken an einen Frontenwechsel, das begriff er ... waren wie Selbstmordgedanken; sie spendeten Trost, gaben einem ein beruhigendes Gefühl, wenn man die Möglichkeit erwog, die letzte aller Möglichkeiten.“

Die Nacht des 9. November wird in dem Roman als zweite „Reichskristallnacht“ geschildert. „Und es begab sich, daß die SED ihre Macht schleifen ließ ...“, leitet Hensher den Fall der Mauer ein, den er – ziemlich befremdlich – mit der Zerstörung der Synagogen von 1938 vergleicht. „Zwei große Menschenwellen, die alle rennen, so schnell sie können, um die unerwartete, erstaunliche Sache zu sehen, diese banale Zerstörung ... ; zwei Flutwellen verschiedener Völker, zwei Flutwellen verschiedener Mengen von Deutschen, die in dieser regnerischen [!] Novembernacht aufeinander zurennen, und die nicht genau wissen, was sie vorfinden werden. Jeder mit einem anderen Gefühl; jeder mit anderen Gedanken ... und aus irgendeinem Grund, den keiner von ihnen je genau erklären werden kann, spüren viele von ihnen eine gewisse Furcht und eine Vorahnung von Unrecht und eine sich anbahnende Katastrophe.“ Der Autor sieht in der Nacht des 9. November 1989 ein zweites umfassendes „Fest der Zerstörung und Vernichtung“. „Die Empfindungen der Zeugen jener beiden Nächte, beider Reichskristallnächte, unterschieden sich letztlich nicht allzusehr; das berauschende Hochgefühl, etwas einzuschlagen und dann davonzulaufen, diese gewalttätige Zerstörung, das sichere Bewußtsein der Zerstörer ... daß [sie] das unbestreitbare Recht des Staates hinter sich hatten, das ist ein besonderes und spezifisches Gefühl; eins, dem man im täglichen Leben selten begegnet.“ – Bei dieser Analogie übersieht Hensher offensichtlich, daß die Mauer durch den Druck der Ostdeutschen auf ihre Regierung zu Fall gebracht wurde. Als ehemalige Ostberlinerin, die das ungläubige Staunen, die allgemeine Erregung und die mitreißende Freude jener Nacht („Wahnsinn!“) selbst erlebt hat, empfand ich den Fall der Mauer als das Ende eines Unrechts, als Befreiung von einem dreißigjährigen Eingesperrtsein. Von Schuldgefühlen der Ostdeutschen beim Durchbrechen der Mauer konnte meines Erachtens keine Rede sein. Dem Autor ist aber zuzustimmen, wenn er aus seiner Kenntnis des weiteren Geschichtsverlaufs voraussieht, daß „sich die Dinge so anders entwickeln und sich [für die Ostdeutschen, D. K.] letztlich nichts verändert“.

Mario, der Stasispitzel, fühlt sich nach dem Fall der Mauer gefährdet und verläßt Berlin auf seinem Rennrad. Da er in beiden Teilen Deutschlands gelebt hat, erkennt er das Illusorische der allgemeinen Euphorie. „Wie wenig der Westen vom Osten wußte; wie wenig der Osten vom Westen wußte. Und wie viel sie sich erhofften. Und er verstand, dieses eine Mal in seinem Leben, was der Westen von ihm wollte, und von Leuten wie ihm. Wie sehr er auf Unschuld hoffte. Der Osten würde wie er unschuldig gen Westen fahren, so voller Dankbarkeit, daß das bittere Ende dieses Tauschhandels sich noch viele Jahre nicht zeigen würde ... Man würde ihnen Autos geben und Geld und Freiheit; helle Lichter, die sie so lange über die Mauer hinweg angeglotzt hatten. Und dafür würden sie dem Westen ihre Unschuld geben, die dort verlorengegangen war. So lautete die Abmachung.“

Im Winter 1990 besuchen Picker und Friedrich gemeinsam zum erstenmal Potsdam. Im Park von Sanssouci gestehen sie sich ein, daß ihnen der weggebrochene Osten als Utopie, als letzter Ausweg und seelisches Trostpflaster fehlen wird. „... wir brauchen das Gegenteil dessen, was wir wollen, damit wir unser Leben führen können. Damit wir sagen können: na ja, unser Leben ist vielleicht nicht unbedingt das, was wir wollen, aber zumindest müssen wir nicht – da drüben leben. Sie werden sehen. In zehn, fünfzehn zwanzig Jahren wird der Westen rufen: Gebt uns unsere Mauer wieder!“, prophezeit Picker.

Neben diesen politischen und geschichtsphilosophischen Diskursen, die ich als Ostberlinerin nur schwer nachvollziehen kann, werden in dem Buch zum Glück auch köstliche Geschichten erzählt, die mit der Absurdität der politischen Situation spielen.. So beispielsweise, wenn Friedrich und Daphne in der Silvesternacht auf der leeren Transitstrecke nach Westberlin tanzen, wenn Friedrich und Picker in der DDR eine friedliche Revolution mit Hilfe von westlichen Klopapierrollen, die sie verschenken wollen, auszulösen gedenken, wenn Mario und Daphne „klassenbewußt“ ein Kreuzberger Türken-Café demolieren oder wenn Mario von seinem Training in der DDR-Sportschule im Harz erzählt.

Die Protagonisten des Romans erscheinen kindlich naiv, ihr Alltag ist im Grunde ziemlich belanglos. Ihr Leben spielt sich in Kneipen – so im berühmten SO 36 –, auf der Straße, im Supermarkt oder in ihren – mehr oder weniger – heruntergekommenen Wohnungen ab, wo sie sich betrinken, miteinander schlafen, den Tag vergammeln, reden. Arbeit oder Studium werden höchstens erwähnt, sie spielen auch in ihren Wertesystemen keine Rolle. Anderweitige Kontakte scheint es kaum zu geben. So bleibt ein eigenartig schaler Geschmack, ein Gefühl der Spärlichkeit des gezeigten sozialen Ausschnitts nach der Lektüre. Ob das gewollt ist oder dem Unvermögen des Autors geschuldet, mögen andere entscheiden.

Hensher besitzt zweifellos Phantasie und die Gabe grotesker Einfälle, er hat eine punktuell sehr genaue Kenntnis der Stadt und offensichtlich das Talent, eine Thematik geistvoll und unterhaltend darzustellen. Die scharfe Beobachtung und der satirische Blick des Autors – sei es auf die Westberliner Linke, sei es auf die Tristesse der DDR – amüsieren, auch wenn er es in seiner Erfindungs- und Übertreibungslust und dem Ehrgeiz, alle Mode- und Reizthemen jenes Jahres in den Roman zu packen, mit der Wahrheit nicht immer so genau nimmt. (DDR-Rennfahrer hatten wohl kaum die Chance, an der Tour de France teilzunehmen. Und fünf Tage nach dem Fall der Mauer konnte eine Westberlinerin weiß Gott nicht in der Gauck-Behörde ihre Stasi-Akten einsehen.) Die Authentizität seiner Darstellung der linken Kreuzberger Szene kann ich nicht beurteilen. Etwas verwirrend und gleichzeitig sehr reizvoll ist die Mischung aus Ironie und Ernsthaftigkeit, mit der Ost wie West „verarztet“ werden.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 10/00 (c) Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

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