Eine Rezension von Christel Berger

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Flucht in die Kindheit

Jenny Erpenbeck:
Geschichte vom alten Kind
Eichborn.Berlin, Berlin 1999, 106 S.

Das ist eine merkwürdige Geschichte: Ein offenbar obdachloses, verstörtes Mädchen wird von der Polizei aufgegriffen, weiß seinen Namen nicht, nicht seine Wohnung. Vierzehn Jahre alt sei es, sagte das Mädchen. Es kommt in ein Kinderheim. Seine Größe, Unbeholfenheit und Dicke unterscheidet es von den anderen Kindern. Sein Benehmen ist eigenartig. Es läßt sich von allen schubsen. Die Lehrer wenden sich nach kurzer Zeit nicht mehr an das Mädchen, sie halten es für unfähig. Und das ist es, was das Mädchen will: unauffällig sein, geduldet, aber nicht gefordert werden. Innerhalb der Hierarchie die Unterste zu sein. Jenny Erpenbeck beschreibt genau, wie es das Mädchen in den verschiedensten Situationen anstellt, diese Nichtbeachtete, Geduldete, Geschubste zu sein. Indem es stets „das Mädchen“ oder „es“ heißt, wird Distanz oder Verfremdung erzeugt. (Und ich merke erst beim Schreiben dieser Rezension, wie schwer es mir fällt, dieses „es“ durchzuhalten und nicht doch einmal „sie“ zu schreiben.) Gleichzeitig gibt es immer wieder Hinweise, daß es bewußt diesen untersten Rang anstrebt, ein Verhalten, zu dem durchaus Raffinesse nötig ist. Der Leser, der auf eine Lösung dieses eigenartigen Falles wartet, wird immer mehr in das Geschehen einbezogen. Er erlebt das Mädchen im Verhalten zu seinen Zimmergenossinnen, wo es eine Gleichzeitigkeit von Ordnung und Unordnung mit den Sachen im eigenen Spind schafft. So ist es den kontrollierenden Lehrern und Zimmergenossinnen gleichermaßen gefällig. Die Jungen des Heims halten es erst für ein willfähriges Opfer, das sie hänseln und gar quälen können, dulden es aber dann, weil es verwendbar ist. Es petzt und redet nicht. Dann – das Mädchen in der Krankenstation: Vor sich hindösend, fühlt es sich in der Wärme des Bettes – ohne Pflichten – am wohlsten.

Der „Fall“ ist sowohl eine merkwürdige Geschichte als auch eine allgemeinmenschliche Modellsituation. Zum einen geht es generell um das Zusammenleben von Menschen, das Verhalten in der Gruppe und die Rolle, die der Einzelne spielt. Die Unauffälligkeit, das Sich-Treiben-Lassen des dicken Mädchens, ihre Verweigerung gegenüber den Lehrern ist ein potenziertes „In-Ruhe-Gelassen-Werden-Wollen“ – ein Wunsch, der jedem zuweilen ankommt. Man fühlt sich erdrückt von der eigenen Verantwortung, der Schwere der zu lösenden Aufgaben. Augen zu, unter die Bettdecke, nicht hören, nicht sehen, nichts entscheiden – sind Fluchtreaktionen. Das Mädchen beherrscht sie perfekt. Der Preis ist die Nicht-Achtung der anderen, das Getreten-Werden.

Ein Buch, das viel über die Schwierigkeiten menschlicher Gemeinschaften sagt. Über Fremdsein und Kindsein. Überforderung und Einordnung. Der Schluß offenbart das Verhalten des angeblichen Kindes als die schwere psychische Krankheit einer Erwachsenen, und auch das gibt natürlich zu denken. Die Idee für das Buch beruht auf einem Vorfall, von dem Jenny Erpenbeck hörte. Doch das reichte ihr nicht, und so begab sie sich selbst als fast Dreißigjährige unter Gymnasiasten, wurde für eine Gleichaltrige gehalten und konnte am eigenen Beispiel studieren, was ein solches „Untertauchen“ erfordert.

Jenny Erpenbeck (geboren 1967) – Sproß einer Schriftstellerfamilie (Großvater, Großmutter, Vater), beweist mit diesem Prosa-Erstling Stilsicherheit, Formbewußtsein und eine Eigenständigkeit, die bei Debüts selten ist. Nach einer Buchbinderlehre studierte sie Musiktheaterregie und lebt jetzt als freie Autorin und Regisseurin in der Nähe von Graz. Dort wird auch ihr erstes Stück „Katzen haben sieben Leben“ aufgeführt. Man darf gespannt sein, womit sie demnächst überrascht!


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 10/00 (c) Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

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