Eine Rezension von Hanna Gräfe


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Zwischen Abschied und Anfang

Katrin Askan: Aus dem Schneider
Roman.
Berlin Verlag, Berlin 2000, 298 S.

Das ist so eine Redensart: „Aus dem Schneider“. Skatspieler zitieren sie, wenn eine unerfreuliche Situation überstanden ist. Sie befinden sich auf dem „halben Weg“, das Ziel ist noch fern, der Ausgang ungewiß. Bei Hildings, deren Familiengeschichte Katrin Askan ganz wunderbar erzählt, hat Skatspielen Tradition. Der Großvater bringt's den Zwillingssöhnen Arnold und Rudolf bei, sie geben`s an die Kinder weiter, nicht ohne nützliche Lebensweisheiten. So versucht Arnold, leitender Ingenieur in einem sozialistischen Betrieb, seinen Töchtern klarzumachen, daß das Spiel mit den 32 Karten auch für Mädchen von Vorteil sei, denn im Berufsleben würden die wichtigsten Dinge gewissermaßen am Kneipentisch ausgehandelt. Frauen könne dadurch vieles, was weitaus unangenehmer sei, erspart bleiben. Sie müßten ja nicht jedes Spiel gewinnen, aber aus dem Schneider sollten sie immer sein. Das findet auch der alte Hilding, der bis zum Bau der Mauer jeden Sonntag aus Westberlin in den Osten zum Skat mit seinen Söhnen fährt. Sorgsam darauf bedacht, pünktlich vor Mitternacht wieder „drüben“ zu sein, aber nie, ohne aus dem Schneider zu sein. Mit solcherart Sentenzen, wie nebenbei gesagt, entsteht ein facettenreiches Bild alltäglichen Lebens.

Für Judith, die Ich-Erzählerin, ist es seit langem beschlossene Sache, wegzugehen. Dreieinhalb Stunden bleiben ihr noch, das Haus, in dem sie geboren und aufgewachsen ist, zu verlassen. Alles ist vorbereitet. An einer Raststätte der Transitautobahn wartet ein roter Golf mit einem Westberliner Kennzeichen. Im Kofferraum dieses „Fluchtautos“ hofft sie über die Grenze zu gelangen. Der Vater ist schon vor einiger Zeit von einer Besuchsreise nach Westberlin nicht zurückkehrt. Die Schwester Ruth, eine oppositionelle Studentin, sitzt im Gefängnis. Die Mutter starb vor vielen Jahren an einer unheilbaren Krankheit. Ihr früher Tod hat die Mädchen beizeiten selbständig werden lassen. Allein durchstreift Judith das vertraute Haus, daß Großvater als junger Mann für die Familie gebaut hat und ewig ein Provisorium blieb. Im Abschied nehmen wird Vergangenes lebendig. Lieb gewordene Gegenstände, Bilder, Möbel, Geräusche, die Zimmer entfalten ihr Eigenleben. Judith erinnert sich an einen Hohlraum, in dem ihr Vater beim mit vielen Schwierigkeiten verbundenen Umbau des Hauses eine Zeitung des Jahres 1936, vom Tag seiner Geburt, entdeckt hat. Dreißig Jahre später, als Judith geboren wurde, nahm er diese Tradition auf, indem er eine Zeitung von jenem Tag dazu legte. Diese Jahreszahlen werden zu wichtigen Koordinaten in Katrin Askans Roman. Von hier aus erzählt sie die Familiengeschichte, die der Großeltern- und Elterngeneration und die eigene - bis ins Jahr 1986. Individuelles und Gesellschaft-liches sind eng miteinander verwoben sind. Die zwei Erzählebenen ermöglichen den Blick auf ein von Umbrüchen und Brüchen geprägtes halbes Jahrhundert deutsch-deutscher Familiengeschichte.

Viele Entscheidungen, die für das Leben der Hilding-Familie bestimmend werden, sind nicht bewußt getroffen. Oft spielt der Zufall eine Rolle. Die damit verbundenen Konsequenzen sind schicksalsschwer. Als Großvater Hilding 1936 ein Haus bauen will, kann er zwischen einem Grundstück im Westen und im Osten Berlins wählen. Da ihm die Straßenbahn in Richtung Westen vor der Nase weggefahren ist und er nicht auf die nächste warten wollte, ging er in Richtung Osten. Dieses „was wäre, wenn“ spielen die Personen in Katrin Askans Roman mehrfach durch. Was wäre zum Beispiel gewesen, wenn Judiths Eltern kurz vor dem Bau der Mauer ihre Hochzeitsreise nach Italien unternommen hätten? Tun oder Unterlassen? Was ist richtig und was falsch? Die Folgen bestimmter Handlungen oder Haltungen sind anfangs oft nicht absehbar oder manifestieren sich erst später. Entziehen kann sich ihnen der einzelne nicht. Katrin Askan erzählt davon eindringlich und mit großer Wahrhaftigkeit und vermittelt so eine ausgewogene und differenzierte Sicht auf den Gang der Ereignisse.

Während die Familiengeschichte der ersten Hilding-Generation, der Großeltern, von Beginn des Hausbaus chronologisch bis in die Gegenwart erzählt wird, setzt Judiths Geschichte 1986 ein. Im Rückblick auf das Leben in diesem Haus, mit den Eltern, der Schwester entfaltet sich ihre Biographie. Es ist ein Leben in familiärer Geborgenheit und äußerer Anpassung (der Vater zum Beispiel war SED-Mitglied), Hinnehmen der Gegebenheiten und Verweigerung. Für Judith war zum Beispiel häufiges, unentschuldigtes Fehlen in der Schule eine Form des Protestes. „Ich weiß, daß ich die, die ich sein möchte, nur an einem anderen Ort, unter anderen Bedingungen sein kann.“ Aber es klingt auch an, „daß ich mich vielleicht einmal zurücksehnen werde nach der, die ich hier war, in diesem Haus“. Während sich Judith in der DDR mit ihren vielen Beschränkungen eingeengt, gelähmt fühlt, gibt ihre Schwester Ruth zu bedenken, aus den Umständen, in denen man lebt, das Beste zu machen. „Sicher ... im Westen kann man reisen, wohin man will, und man kann sagen, was man denkt. Aber sind die Leute deshalb glücklicher?“ Und Vaters Zwillingsbruder, der es noch geschafft hat am 13. August 1961, „rüber“, in den Westen zu kommen, fragt: „Glaubst du, daß es da besser ist?“ In dieser Ambivalenz versucht Katrin Askan, ihren Figuren und der Zeit gerecht zu werden.

Aus dem Schneider ist der dritte Roman der 1966 in Ostberlin geborenen Autorin. Parallelen zu eigenen Erfahrungen sind offenbar. Als Zwanzigjährige ist die Autorin in die Bundesrepublik geflohen. Nach Philosophie- und Germanistik-Studium an der FU Berlin lebt sie seit 1998 sie als freie Schriftstellerin in Köln. Zwischen Abschied und Neubeginn, die unterschiedlichen Prägungen und der lange, konfliktreiche Weg des Aufeinanderzugehens der Menschen in Ost und West sind auch Gegenstand der Romane A-Dur (1996) und Eisenengel (1998).

„Wahrscheinlich reicht zum Schluß, egal wann man sich fertigmacht, die Zeit nie mehr aus, um sich zu trennen“, stellt am Romanende die Ich-Erzählerin Judith fest. „Der Abschied hat immer schon stattgefunden, bevor er bewußt wird. Man kann nur so gehen, als würde man zurückkehren. ... Als ich die Haustür hinter mir ins Schloß ziehe, weiß ich, daß ich mich nicht umdrehen darf.“

Mit ihrem Roman Aus dem Schneider ist Katrin Askan keinesfalls mehr auf dem „halben Weg“. Sie ist in der Literatur angekommen.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 10/00 (c) Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

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