Eine Annotation von Gisela Reller


Carroll, Lewis:

Tagebuch einer Reise nach Rußland im Jahre 1867

Aus dem Englischen von Eleonore Frey.
Herausgegeben von Felix Philipp Ingold.
Insel Verlag, Frankfurt/M. 2000, 132 S.

Ein hübsch-naiv geschriebenes Büchlein. Nur, ein Stück Kulturgeschichte, wie der Verlag verspricht, ist des Engländers „Sommerferienheft“ nicht. Zwar versteht Carroll zu beobachten, geht sehr gern in Restaurants und ins Theater, vor allem aber in Kirchen, meist mit seinem Freund, einem protestantischen Theologen, der ihn zu dieser Reise nach Rußland „angestiftet“ hat. Und so erfahren wir viel über die üppige Ausstattung der russischen Kirchen und Klöster und über die Gestaltung der Gottesdienste, auch über gelungene und weniger gelungene Theateraufführungen wird erzählt und über das, was man in Rußland (in Restaurants) ißt.

Felix Philipp Ingold, der Herausgeber, sagt dann auch in seinem Nachwort richtig, daß das Interesse des „weltfremden Stubenhockers“ Carroll an Rußland keineswegs „auf einschlägigen Sachkenntnissen beruhte, daß es vielmehr von der üblichen touristischen Neugier auf Exotisches und Kurioses geprägt war“. Und so finden sich zwar bald amüsante, bald sentimentale Genreszenen, aber keinerlei tiefschürfende russische Wirklichkeit. In Carrolls Reisenotizen werden zum Beispiel Reformen des Zaren Alexander II. auch nicht mit einem Wort erwähnt - also kein Wort über die Aufhebung der Leibeigenschaft und deren Folgen. Obwohl eingeladen von einem russischen Bauern, gibt es lediglich die Bemerkung, es sei „interessant, mit eigenen Augen die Behausung eines russischen Bauern zu sehen“.

Einen Reiz bekommt dieses Tagebuch - das am 12.Juli beginnt und am 13. September 1867 endet, von London über Brüssel, Köln, Berlin, Potsdam, Danzig, Königsberg, St. Petersburg, Moskau, Nishnij Nowgorod, wieder Moskau, Warschau, Dresden, Leipzig, Gießen, Ems, Bingen, Paris, Calais führt - dadurch, daß Lewis Carroll eigentlich der Oxforder Mathematikprofessor Charles Lutwidge Dodgson (1832-1898) ist - der Schöpfer der weltbekannten Kinderbücher Alice im Wunderland und Alice hinter den Spiegeln.

Carrolls Tagebuch ist mit liebevoll ausgewählten zeitgenössischen Illustrationen ausgestattet. Warum eigentlich hat man die eigenhändigen Zeichnungen des Autors nicht dazugegeben? Mit der Fußnote auf Seite 124 des Buches wird dem Leser statt dessen ein recht mühseliger Weg vorgeschlagen: sich diese „kaum bekannten Reproduktionen“ in der „Literaturnaja Gezeta“ Nr. 1 vom 1. 1. 1981 anzusehen ...“


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 08+09/00 (c) Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

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