Literaturstätten


Burga Kalinowski

Bücher einer Ausstellung
Geschichten aus dem Nähkästchen der Literatur

Wer hätte das gedacht: Der West-östliche Divan von Goethe war ein Ladenhüter, jederzeit lieferbar fast das ganze 19. Jahrhundert lang. Der Verlagskatalog der J. G. Cotta'schen Buchhandlung von 1892 führte die Dichtung unverändert in der Erstausgabe von 1819. Das mag nicht nur an der Besprechung des Kritikers Adolph Müllner gelegen haben, der, in Vorwegnahme Reich-Ranitzkischer Verdikte, schrieb: „Goethe? Nunja, Goethe! Da wissen wir schon, wir Leser, was wir von dem Herrn Kunstrichter zu lesen bekommen werden. Bey Goethe kann es die deutsche Kritik unter Göttlich! nicht thun. Aber wir wollen diesmal keine Leser seyn, wie der Papagey in Goethes Vögeln ...“ Dann nimmt er sich das Werk vor, stellt fest, daß das Buch „eines der wunderlichsten (ist), die Goethe jemals geschrieben hat“, und nörgelt schließlich mißvergnügt, daß es „durchaus nicht nach unserem Geschmack ist“. So ging es und so geht es in der Literaturkritik. Nun, Goethe hat sich durchgesetzt.

Diese und andere Geschichten aus dem Nähkästchen der Literatur präsentierte das Literaturhaus Berlin in der Ausstellung „Aus der Hand oder Was mit Büchern geschieht“. Sie ist Teil einer Reihe, die 1999 vom Deutschen Literaturarchiv und dem Marbacher Schiller-Museum zusammengestellt und ganz einfach „Vom Schreiben“ genannt wurde. Die Ausstellung führt in die Welt der Dichter und Denker. Mit Sorgfalt und Sachkenntnis wurde das literaturgeschichtliche Drumherum zusammengestellt, eine Fülle interessanter Details und Zusammenhänge teilen dem Literatur-Normalverbraucher mit, was er schon immer mal wissen wollte: Wie geht das mit dem Schreiben. Die unendliche Leere des weißen Blattes, die Rituale und Listen, die das Ringen um den ersten Satz, die erste Seite begleiten. Oder wie sich überhaupt zum Schreiben bringen? Ein weites Feld das Thema Stimulanzen - was bringt den schöpferischen Akt am besten in Gang? Der Kuß der Muse ist ein Gerücht. Die meisten Autoren griffen zu handfesteren Anregungen. Wenn alles dann vorbei - Quälerei, Zorn, Verzweiflung, Glücksmomente und Zufriedenheit -, beginnt das wirklich Schlimme: Das Werk verläßt den Schöpfer. Natürlich war es so gedacht, aber loslassen ist schwer. Grass zum Beispiel fühlt sich „wie enteignet“, wenn er ein neues Buch „aus der Hand“ gibt. Rudolf Borchardt fiel in eine Stimmung von „tiefem Alleinsein, fast Beraubtsein“. Während es Jean Pauls schönster Tag war, wenn er ein Werk abgeschickt hatte, er fühlte sich „so ausruhend frei“.

So ein bißchen weht der Geist der Literatur aus den Jahrhunderten herüber. Im Kapitel über die von Verlegern bis heute erfolglos beklagte lästige Leidenschaft der Autoren, bis zur letzten Minute am Werk zu feilen - bis in den Druck, am liebsten noch danach -, war u. a. Schillers Hand- oder Korrekturexemplar der „Jungfrau von Orleans“ zu sehen. Die nach rechts neigende Schrift, einige kraklige Striche, Textergänzungen - es ist schon ein eigenartiges Gefühl. Die meisten Änderungen brachte er im ersten Aufzug an, danach korrigierte er nur noch sparsam - viel Zeit hatte er nicht mehr. Der erste Band der fünfbändigen Ausgabe sollte recht bald, zu Ostern, herauskommen. Am 3. Februar 1805 schickte Schiller den Anfang der „Jungfrau“ dem Verleger, am 25. folgte der Rest des Manuskripts, einen Probebogen sah er noch, aber nicht den vollständigen ersten Band. Am 9. Mai 1805 ist Schiller in Weimar gestorben.

Über Korrekturen der anderen Art befand bis in jüngste Zeit die Zensur, „das lebendige Geständnis der Großen, daß sie nur verdummte Sklaven treten, aber keine freien Völker regieren können“, sagt der Redakteur aus Nestroys Stück „Freiheit im Krähwinkel“. „... Unzüchtig und gotteslästerlich“ oder majestätsbeleidigend oder aufrührerisch oder „unvölkisch und entartet“ oder rufschädigend lauteten die Obrigkeitsurteile, nach denen Bücher verboten wurden, auf den Index oder ins Feuer kamen oder durch Auslassung einfach verfälscht wurden. Prominentes Beispiel: Schillers Kollege Goethe, dessen Venetianische Epigramme das Schicklichkeitsgefühl der sich ansonsten rührend um Goethes Werk kümmernden Großherzogin Sophie verstörte. Also setzte sie ihre Hofdamen daran, das Erotische mit Schabemesserchen aus der Welt zu schaffen. Inzwischen sind die „Anstößigkeiten“ wieder drin.

Geradezu prädestiniert für Verstöße gegen politische Zucht und Ordnung war Heinrich Heine. So erregte seine Vorrede zu den „Französischen Zuständen“ (1833 bei Hoffmann und Campe) - ein Buch, politisch bis ins Komma - den Unwillen der Behörden und kostete „so gewaltige Ströme polizeilicher Tinte“ wie kaum ein anderes seiner Werke. Das Vorwort hatte das Zeug, den Verleger Campe „in des Teufels Küche zu liefern“, wie dieser seinem Autoren vorwarf. Über den amtlich verstümmelten Text drückte Heine seine „widerwärtige Empfindung“ aus und stellte zornig fest, „daß durch diese Unterdrückung alles, was ich sagte, nicht bloß entstellt, sondern auch mitunter ins Servile verkehrt worden ist“. Zum Beispiel schrieb Heine über einen konservativen Historiker, er sei „von allen mittelmäßigen Schriftstellern noch der beste“. Die Zensur machte daraus: „Er ist von allen Schriftstellern noch der Beste.“ Das Werk (oder Teile davon) mindestens ebenso verfälschend wirkten gelegentlich rührige Witwen oder hinterbliebene eitle Geschwister als Gralshüter des Geistes - Nitzsches Schwester ist ein trostloses Beispiel für anmaßende Eingriffe, die geistesgeschichtlich fatale Folgen hatten. Manches Buch wiederum wurde gar nicht erst ins Land gelassen. So kommt es, daß eine ganze westdeutsche Generation an der Lektüre des Buches Mephisto von Klaus Mann gehindert wurde. Die Erstausgabe erschien 1936 im Amsterdamer Exilverlag Querido, 20 Jahre später kam es in der DDR im Aufbau-Verlag heraus, 1965 in der BRD und wurde umgehend aufgrund einer Klage von Gründgens Adoptivsohn verboten - Begründung: „Die Allgemeinheit ist nicht daran interessiert, ein falsches Bild über die Theaterverhältnisse nach 1933 aus der Sicht eines Emigranten zu erhalten.“ Dem schloß sich 1968 das Bundesverfassungsgericht an! Der interessierte Bundesbürger griff auf östliche Konterbande zurück. Was dem einen sin Ul, ist dem anderen sin Nachtigall: „Nur für den Dienstgebrauch“ wurde ein Exemplar von Grass' Die Plebejer proben den Aufstand gestempelt - pikanterweise in der Bibliothek des Ministeriums für Kultur, Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel, die sich im übrigen mit einer ganzen Menge Bücher schwertat.
Heyms 5 Tage im Juni (zum Druck nicht zugelassen) kursierte von Hand vervielfältigt im Land des Lesens, und Bölls Ansichten eines Clowns war begehrte Schmuggelware von West nach Ost.

So unbefangen brachial trampelt Zensur heute nun nicht mehr durch die Bücherwelt. Sie kommt im Sauseschritt der gerichtlichen Verfügung daher, hüllt sich in tödliches mediales Schweigen (worüber nicht geredet wird, existiert nicht) oder überläßt ihren Part zeitgeistiger Literaturkritik, deren ästhetische und politische Verrisse durchaus so wirkungsvoll sein können wie das Hackebeil der Zensur. Erledigt. Den Rest besorgt der Markt.

Ein anderes Kapitel handelt vom Sinn (Tiefsinn, Unsinn, Feinsinn) der Widmungen, die Autoren ihren Büchern mit auf den Weg geben: In Liebe, Dankbarkeit, Ehrerbietung usw. für X oderY, vielleicht noch eine Zeile, einen Vers. Scheinbar formelhaft, leuchtet hinter diesen Eintragungen aber doch eine Geschichte auf, von der der Leser kaum oder nie etwas erfährt. Manchmal jedoch wird der Schleier gelüftet. Das offenbar Rätselhafte erschließt sich. Berühmtestes Beispiel ist die „Widmung aller Widmungen“: Wem sonst als Dir.

Intimste Gefühle in vier Worten. Zueignung in tiefstem Sinne. Unendliches Anvertrauen. Die Zeile rührt an.

Hölderlin schenkte seinen Hyperion Susette Gontard, der Frau des Frankfurter Bankiers, in dessen Haus er als Hofmeister die Kinder erzog. Susette Gontard und Hölderlin wurden Liebende. Sie ist seine Diotima und ihm eingebrannt in Geist und Seele. Im Hyperion verdichtet er sie zur unvergänglichen Symbolgestalt der Geliebten. In der Ausstellung das Blatt mit der handschriftlichen Widmung.

Andere Widmungen stelzen als predigtartige Lobhudeleien durch die Zeiten und haben heute bestenfalls den Reiz des Kuriosen. Fürstenwidmungen zum Beispiel. Jean Paul hatte es doch schlicht versäumt, der ersten Auflage von Levana oder Erziehhilfe eine Huldigung für die Landesfürstin beizugeben. Dies holte er bei der zweiten Auflage gründlich nach und stanzte formvollendet: „Allergnädigste Königin! Durch den hohen Namen Eurer Königlichen Majestät will der Verfasser die Levana für die Mütter einweihen, wie die Fahnen des Vaterlandes durch eine Fürstin, welche sie mit ihrer Arbeit ausschmückt, eine neue begeisternde Macht gewinnen.“ Drei weitere Absätze folgen und schließlich das Malheur: Druckfehler im königlichen Namen. Aber die Dame nahm's nicht übel. Der Fehler blieb - Cottas Korrektoren waren nicht pingelig.

Nur zehn Jahre hielt sich die Begeisterung Rilkes für Gerhart Hauptmann, insbesondere für dessen Stück „Michael Kramer“, emphatisch ausgedrückt in der Widmung im Buch der Bilder (1902): „Dieses Buch ist Gerhart Hauptmann in Liebe und aus Dankbarkeit für ,Michael Kramer` zugeeignet.“ 1912 sah der Dichter die Sache anders: Für eine neue Auflage strich er die Zueignung nachdrücklich durch. Zack-Zack. Es kam ihm gerade passend zum 50. Geburtstag des einst verehrten Dramatikers - „wenn das nicht eine zu auffallende Art ist, seinen 50. Geburtstag zu begehen?“, so Rilke an seinen Verleger. So konnte er auch, der Feinsinnige.

Ja freilich, sie waren alle sehr menschlich. Diese Nähe zum Alltäglichen, die Marotten, Lieben und Sticheleien sind so'n kleiner Seitenweg zu den Großen und Berühmten - zu ihren Büchern. Und dann waren die Schreiber ja immer auch Leser. Die Frage danach, was sie denn lasen und wie, führte in der Ausstellung zu interessanten Einblicken. Lesespuren also und ihre Variationen. Jeder weiß, was da so möglich ist.

Eines der wenigen überlieferten Bücher aus Stefan Georges Besitz ist - natürlich - ein Gedichtband, in das George gleich vorn auf dem Titelblatt seinen Eindruck festhielt: „Vollkommen ahnungslos / Ideen: Ultra-modern/ Leistung: genau Geibel-Stufe“. Das war es dann für die Gedichte eines Julius Hart. Gottfried Benn ging deutlich rigoroser zu Werke. Anstriche, Ausrufe- und Fragezeichen, wütende Unterstreichungen, Randnotizen: „Das Innerlich-Inhaltliche ist unbedeutend“, „das ist hübsch“ (und als Urteil eigentlich vernichtend), „Fragen über Fragen“ - Max Hermann kam mit seinem Gedichtband Verbannung (1919) ins Sperrfeuer des Analytikers Benn.

Welche Spuren ein intensiver Arbeitsprozeß mit dem Buch am Buch hinterläßt, bezeugt Madame Bovary von Flaubert, das Arbeitsexemplar des Schriftstellers Jean Amèry, das er für sein „Porträt eines einfachen Mannes“ über den Landarzt Charles Bovary benutzte. Da ist alles zu finden: Anmerkungen bis in den Text hinein, Kugelschreiberspuren, der brandige Fleck von einer Zigarette.

Kurz, alles das, was sich der Normal-Leser verkneifen sollte - das Leseleben beginnt mit der Ermahnung „paß schön auf damit“. Und doch gehen wir mit einem Buch ins Bett und knicken, kurz vorm Schlaf, ein Eselsohr. Hocken auf dem Sofa, müssen unbedingt eine Zeile markieren und ritzen kurzerhand mit dem Daumennagel ein Zeichen (besser ist natürlich ein Stift) oder legen schnell ein Stück Bonbonpapier - draußen im Park sind es Grashalme - in die aufgeschlagene Seite, oder machen ein dickes Ausrufezeichen.

Das geschieht mit Büchern eben auch. Vielleicht nicht mal das Schlechteste, wenn es ein Lese-Zeichen ist.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 08+09/00 (c) Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

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