Eine Rezension von Sibille Tröml


Versuche zu leben - Lebensversuche

Sibylle Severus: Nauenfahrt
Roman.
Ed. Löwenzahn, Innsbruck 1997 (Skarabäus), 138 S.


Zugegeben, man kann darüber streiten, ob ein Buch, das bereits 1997 erschien, heute noch in Form einer Rezension betrachtet werden dürfe oder ob nicht vielmehr aufgrund der großen Zeitspanne ein literaturwissenschaftlicher Aufsatz näherläge. Aber zum einen existieren nicht wenige wissenschaftliche Abhandlungen, die sich - mit unterschiedlichem Erfolg - aktuellen Themen zuwende(te)n. Zum anderen bedeutet „rezensieren“ seinem Ursprung nach nichts anderes als „sorgfältig prüfen, mustern“, „begutachten, einschätzen“. Da der Begriff also keinerlei zeitliche Komponente beinhaltet, sei nachfolgend getan, was manchem ein Kopfschütteln abringen mag: die ledigliche Besprechung eines literarischen Textes nach seiner Erstlektüre.

Wirft man einen Blick auf die Äußerlichkeiten von Nauenfahrt, so präsentiert sich dieser dritte Roman von Sibylle Severus - der erste wurde 1981, der zweite 1984 veröffentlicht - als ein rundherum süd-deutsches Werk: Die Autorin wurde in Oberbayern geboren (1937) und lebt nun in Zürich, der Verlag hat seinen Sitz in Innsbruck, Handlungsort ist die deutschsprachige Schweiz, und die titelgebende Nauenfahrt ist die Fahrt mit einem Schiff, das - wie im Klappentext zu erfahren ist - d e r Nauen heißt und auf dem Vierwaldstätter See dem Transport von Rohstoffen dient. Im Buch nun sind der Nauen und der See sowohl der das Erzählte umgebende äußere Rahmen als auch Sinnbild für das Suchen und Finden fremder wie eigener Spuren, sind Raum für das Erfinden von Geschichten, Raum für „Bilder der Phantasie“. Und doch beinhaltet „Sich Vorstellen“ als ein möglicher, alles um- bzw. überschreibender Begriff für diesen Text nicht nur die imaginierende Seite des Sich-etwas- bzw. Sich-jemanden-Vorstellens, sondern auch das Moment des etwas, einen anderen bzw. sich selbst Darstellens und damit auch das Moment des in den Vordergrund Rückens.

So stellt sich die Erzählerin Louise Leben und Wesensart einer ihr unbekannten Frau (Luise) vor, zu deren Beerdigung sie mit einem Freund fährt und deren Biographie auf erstaunliche Weise der ihren ähnelt. Und obwohl sie sich am Anfang noch bewußt dagegen wehrt, diese Tatsache überzubewerten - „Es kann nicht von einem besonderen Zufall gesprochen werden, wenn eine Biographie der anderen gleicht. In Europa gibt es eine ganze Menge ähnlicher Lebensläufe.“ -, wird diese andere weibliche Existenz, das in ihr Gelebte und das Nichtgelebte, werden ihre Leidenschaften und Niederlagen immer mehr mit dem eigenen - ähnlichen - Sein, Sein-Wollen und Nicht-Sein in Verbindung gebracht, werden aus selbst Erfahrenem mögliche Bilder der anderen abgeleitet und mit über sie Berichtetem verknüpft. Louise und Luise vermischen sich dabei immer mehr, wie auch das Anderssein und Einswerden nur noch schwer voneinander zu trennen sind. Daß sich angesichts dessen der Name Max Frisch geradezu aufdrängt, versteht sich von selbst, geht es doch hierbei letztendlich auch um die Frage nach dem Bild, welches wir von uns selbst (Eigenbild) und welches die anderen von uns (Fremdbild) haben. Doch Nauenfahrt ist alles andere als ein Roman der Nabelschau, der simplen Fremd- und hintergründigen Selbstbetrachtung. Das Erzählte, das sich behutsam, in leisen Tönen zwischen Faszination und Erschrecken, zwischen Protest und Erschöpfung, zwischen Nachdenklichkeit und Traurigkeit bewegt, kreist vor allem immer wieder um die Spannung zwischen (richtig, im Sinne von intensiv) Leben und (schmerzvoll, mühsam) Überleben, zwischen Lebendigsein und Warten, zwischen äußerer Fülle und inwendiger Leere, zwischen Intuitivem und Vernünftigem, zwischen Sich-Offenlegen und Sich-Rüstungen-Anlegen. Wehleidigkeit, hier ist dem Rezensenten der „Weltwoche“ zuzustimmen, wird dabei vermieden. Trotzdem könnte es passieren, daß Leserinnen - über die ich als Frau nur zu urteilen vermag - so etwas wie nachdenkliche Schwermut überfällt, denn sehr feinsinnig sind vielfältige Lebensfreuden und Lebensnöte in leise-eindringliche Worte gefaßt, die mancher als geschlechtsspezifisch bezeichnen mag, die oftmals aber auch und vor allem eine Frage individueller Erlebensfähigkeit und Emotionalität sind.

Nicht zuletzt aber könnte und sollte das ein Grund mehr sein, diesen kleinen Roman zur Hand zu nehmen. Nauenfahrt nämlich ist ein Text, der zwar vordergründig (!) die Schmerzen des Fühlens und des Gefühls, des Leidens und der Einsamkeit „thematisiert“, der aber nichtsdestotrotz bzw. gerade deshalb behutsam gegen Emotionslosigkeit anschreibt.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 08+09/00 (c) Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

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