Eine Rezension von Manfred Lemaire


Seine ungenaue Wahrheit

Alexander Schalck-Golodkowski:
Deutsch-deutsche Erinnerungen
Rowohlt Verlag, Reinbeck 2000, 341 S

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Der große Alex, wie man ihn zu DDR-Zeiten wegen seiner Länge von rund 1,90 m nannte, hat ein Jahrzehnt gebraucht, seine Erinnerungen zu Papier zu bringen und in eine druckreife Fassung bringen zu lassen. Sie bietet keine erkennbaren juristischen Angriffsflächen und erscheint für Uneingeweihte exakt. Dafür dankt er am Ende des Buches seinem Anwalt sowie früheren Zu- und Mitarbeitern. Diese müssen ihm erneut weidlich geholfen haben, Leute von damals, „ohne die ich aufgeschmissen gewesen wäre“, wie er feststellt.

Gegen die Schamfrist von zehn Jahren, die man auch als notwendigen Abstand sehen kann, ist nichts einzuwenden, zumal der Ex-Staatssekretär ja eine Menge bundesdeutsche Strafverfahren und Untersuchungsausschüsse am Hals hatte, die ein paar bedingte Verurteilungen brachten, mit denen er leben kann, wie er sagt. Auch Formulierungshilfen darf jedermann in Anspruch nehmen, Schalck um so mehr, da er nach eigenem Bekunden kein Mann ist, „der auf sprachliche Feinheiten übertriebenen Wert legt“.

Das Buch ist also sprachlich sauber. An einigen Stellen ist es von verhaltener Originalität. Selten - siehe „aufgeschmissen“ - gibt sich der Berliner Schalck zu erkennen. Die Autobiographie des früheren Leiters des Bereichs Kommerzielle Koordinierung (KoKo), lange Jahre zugleich Honeckers Erfüllungsgehilfe beim finanziellen Abmelken der Bundesrepublik, bietet in der Hauptsache einen Tätigkeitsbericht, selbstbewußt dargelegt. Schalck stellt in aller Bescheidenheit sein Licht nicht unter den Scheffel, spricht über „meine kommunikativen Fähigkeiten“ und „meine kaufmännischen Talente“, da bekommt man Respekt. Es stimmt sogar, er war ein Verhandlungsschlitzohr und ungewöhnlicher Handelsmann.

Ja, Schalck war schon ein toller Hecht im deutsch-deutschen Karpfenteich, wenn man den Rückblick in allen Einzelheiten und Schlußfolgerungen für bare Münze nimmt. Der Mann hat an historischen Knackpunkten für seinen Generalsekretär mit Exponenten des anderen Deutschland verhandelt und ihnen für seine DDR, in der er hochgekommen war, Milliarden D-Mark abgehandelt. Erpressung ist ein großes Wort - die Verhältnisse waren so, daß man für den Zugang zu Westberlin und das Beseitigen der Westberliner Fäkalien einen Haufen harte Währung verlangen konnte. Pecunia non olet.

Der Autor gibt in der Einleitung zu erkennen, er werde seine Wahrheit mitteilen, da ihm keine andere bekannt sei. Nun, bei allem Bemühen, seine Darstellung durch Fakten zu stützen - die Wahrheiten des Alexander Schalck sind ungenau, geschönt, auf seine Rechtfertigung zugeschnitten. Sie ist sein Ziel, sein eigentliches Anliegen. Speziell geht es ihm darum, seinen Geschäftsbereich sauber erscheinen zu lassen: die Zentrale von KoKo mit ihren Außenhandelsfirmen, Vertreterfirmen, Anteilen an Firmen und Gesellschaften außerhalb der DDR. „KoKo war keine Geheimorganisation“, versichert er. Und widerlegt sich selbst: „Es war dezidierte Politik der Staats- und Parteiführung, die Arbeit des Bereiches Kommerzielle Koordinierung unter Geheimhaltung zu stellen.“

„Der ganze KoKo-Kosmos - die Berliner Zentrale und unsere Firmen - wurde kontrolliert, und zwar mit der Gründlichkeit der deutschen Bürokratie.“ Dies ist eine der Lügen, die in dem Buch aufgetischt werden. Lediglich die sechs regulären Außenhandelsunternehmen des Bereiches wurden von der Valutakontrollgruppe des Finanzministeriums der DDR überprüft. Die alles entscheidende KoKo-Zentrale dagegen, zu der die Gelder flossen, mit ihren Firmen und vor allem Schalcks geheime Hauptabteilung I waren der gesetzlich vorgeschriebenen Finanzrevision entzogen. Durch Verfügung 129/72 des Ministerratsvorsitzenden war KoKo zum Devisenausland erklärt worden.

Die gründliche deutsche Bürokratie der DDR hat bis zu Schalcks Verschwinden nach Westberlin in der Nacht vom 2. zum 3. Dezember 1989 nicht gewußt, daß im Keller seiner Zentrale, Wallstraße 17-22 in Berlin-Mitte, 21 200 kg Feingold lagen, gestapelt in Barren zu je 5kg. Der Chef der Tresorverwaltung der Staatsbank staunte: Eine solche Menge hatte er noch nie gesehen. Der höchste Goldbestand der Staatsbank seit Bestehen der DDR waren 6000 kg.

Die DDR war überschuldet, bewegte sich der Zahlungsunfähigkeit entgegen. Schalck teilt in seinem Buch mit, daß er von der Bundesrepublik zehn Milliarden DM Kredit erhoffte, um den Bankrott abzuwenden, eine illusionäre Summe. Die Staatskasse war leer, aber der KoKo-Chef hatte für eine halbe Milliarde DM Gold im Keller, und als die offiziellen KoKo-Konten von der Regierung Modrow beschlagnahmt wurden, fand man noch ein Vielfaches: 6,9 Milliarden DM sowie 33,2 Milliarden Mark der DDR - dieser Betrag entsprach fast einem Fünftel der Spareinlagen sämtlicher DDR-Bürger. In Schalcks Erinnerungen existieren diese Summen nicht.

Auch bei - vergleichsweise - Peanuts hatte die gründliche deutsche Bürokratie keine Chance. In den Memoiren ist eindrucksvoll geschildert, wie umsichtig Schalcks Frau Sigrid die Versorgung der Parteiführung in Wandlitz mit Westwaren organisierte (sie war Major der Staatssicherheit, Offizier im besonderen Einsatz, was MfS-Oberst Schalck nicht erwähnt). Er erwähnt auch nicht, was in einem Bericht zur Untersuchung von Amtsmißbrauch vom 12. 3. 1990 festgestellt wurde: Alle Belege der Kuriere, die für das Politbüro in Westberlin einkauften, „waren lt. Weisung A. Schalcks nur kurzfristig aufzuheben und dann zu vernichten“.

Stolz teilt der Autor mit: „Wir schafften es, mit unspektakulären Geschäften gutes Geld zu verdienen.“ Und: Die KoKo-Betriebe „mußten Gewinne erzielen, überwiegend in kapitalistischen Währungen, aber auch in Mark der DDR“. Er teilt nicht mit, daß KoKo in Wahrheit mehr als die Hälfte ihrer Einnahmen in der DDR erzielt hat, in der Hauptsache durch saftige Provisionen und überhöhte Zinsen für Importlieferungen an VEB. Er teilt auch nicht mit, wie KoKo schlechtes Geld verdiente, weil immer wieder große Mengen Waren auf westlichen Märkten zu Dumpingpreisen verschleudert wurden, um den Zinsendienst der verschuldeten DDR zu gewährleisten. Er verschweigt ebenso, auf welche Weise die unspektakulären Geschäfte des Intershops enorme Gewinne abwarfen. Der Intershop-Umsatz stieg bis 1989 auf über eine Milliarde DM, und von jeder harten Mark hatte KoKo rund eine halbe Mark Gewinn. Zwei Drittel der Käufer aber waren seit vielen Jahren DDR-Bürger. Nie hat eine Handelskette die Kunden schamloser ausgenommen. Das gehört jedoch nicht zu den Wahrheiten in diesem Buch.

Es ist sicherlich nicht schlimm, steht jedoch einer sich seriös gebenden Publikation schlecht an, wenn auch der Bildteil mit Fehlinformationen aufwartet. So handelt es sich bei einem Foto von 1964 nicht um ein Messegespräch „in der Wirtschaftsredaktion der ,Berliner Zeitung'“, sondern in der Redaktion der Wochenzeitung „Die Wirtschaft“, deren Chefredakteur neben Schalck zu sehen ist. Ein Foto von 1984 zeigt Franz Josef Strauß in Leipzig nicht wie angegeben mit DDR-Minister Felix Meier, sondern mit Generaldirektor Heinz Brandt, Kombinat Elektroprojekt und Anlagenbau. Der ungenannte junge Mann übrigens, groß im Vordergrund, ist ein Personenschützer vom MfS ...

Unanständig wird es, wenn Geschichtsklitterung ins Spiel kommt. Das Brandenburger Tor in Berlin wurde bekanntlich am 22. 12. 1989 für Passanten geöffnet. Schalck teilt mit: „Krenz hatte sich das ausgedacht.“ Sein Freund Krenz aber hatte längst nichts mehr auszudenken oder gar zu sagen - er mußte bereits am 6. 12. als Staatsratsvorsitzender zurücktreten. Über die Öffnung des Tors war schon bei einem ersten Treffen des Ministerpräsidenten Modrow mit dem Regierenden Bürgermeister Momper im Ostberliner Gästehaus Johannishof gesprochen worden, und am 19. 12. einigte sich Bundeskanzler Kohl mit Modrow in Dresden auf den 22. 12. Am 21. 12. klärten ihre persönlichen Mitarbeiter in zwei Telefongesprächen die Einzelheiten (Redner, Redezeit, Beginn).

Wer sich mit den Ereignissen der Wendezeit auskennt, wird auch Schalcks Feststellung nicht akzeptieren können, er habe noch am 1. Dezember nichts davon gehört, daß die Koko-Außenhandelsunternehmen dem Außenhandelsministerium eingegliedert werden sollten, „weder von Hans Modrow, mit dem ich zuvor Kontakt gehabt hatte, noch von Egon Krenz“. Tatsächlich wurde dem Staatssekretär im Arbeitszimmer des Ministerpräsidenten mitgeteilt, daß er nun der Regierung unterstellt sei, der Bereich KoKo aufgelöst und dem Außenhandelsminister zugeordnet werde. Schalck hat dies betroffen, aber nicht überrascht aufgenommen. Augenzeugen fanden ihn den Tränen nahe.

Ein weiteres Beispiel für den Umgang des Autors mit der Wahrheit ist zu erwähnen, ein durchaus signifikantes Beispiel. Bevor der KoKo-Chef sich vor der Untersuchung seiner Geschäfte durch einen Ausschuß der Volkskammer in Sicherheit brachte, verfaßte er am 2.12. 1989 einen handschriftlichen Brief * an den DDR-Ministerpräsidenten. Hierzu gibt es in dem Buch lediglich einen Satz: „Dann schrieb ich kurz an Hans Modrow in eigener Sache, teilte ihm mit, daß ich einen Urlaub antreten würde.“ Er hat jedoch noch mehr mitgeteilt. Zum Beispiel: „Ich fahre nicht in die BRD, nach Westberlin oder Nahoststaaten.“ Und: „Ich verspreche Dir und meinem Staat, daß ich gegenüber niemandem über meine Kenntnisse sprechen werde.“

Tatsächlich ist Schalck kurz darauf nach Westberlin gefahren und im Januar 1990 nach München geflogen. Seine Kenntnisse hat er in 31 langen Sitzungen dem Bundesnachrichtendienst offenbart. Für ihn gab es, stellt er rückschauend fest, „keine Schwierigkeiten, zu antworten. Je mehr die Bundesrepublik über den sich auflösenden Staat wußte, desto besser für die DDR.“ Oder desto besser für Schalck?

Alexander Schalck hat mit seinen Erinnerungen einen Beitrag zur Zeitgeschichte geleistet. Wer ihn liest, muß wohl in Kauf nehmen, daß der Autor sich so zu erinnern versucht, wie es ihm konveniert. Dies soll man ja in der Memoirenliteratur hin und wieder finden.

* Der erwähnte „Abschiedsbrief“ vom 2. 12. 1989 an Modrow ist bisher nicht veröffentlicht. Wie wir aus dem Verlag am Park, Berlin, erfahren, wird das Original in einem Buch dokumentiert, das im Herbstprogramm des Verlages erscheint (Karl-Heinz Arnold: ZEITUNG. Ein Journalist berichtet).

Die Redaktion

Berliner LeseZeichen, Ausgabe 08+09/00 (c) Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

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