Eine Rezension von Karl-Heinz Arnold


Einmischung in die Politik

Richard North Patterson: Der Kandidat
Roman.
Deutsch von Rainer Pfleiderer.
C. Bertelsmann Verlag, München 2000, 477 S.


Richard North Patterson gehört ebenso wie David Baldacci und John Grisham in den USA zu den gelernten Juristen, die als Schriftsteller sich in der Unterhaltungsliteratur gegen Ende des zwanzigsten Jahrhunderts einen Namen gemacht haben. Sie sind zu Autoren von Bestsellern geworden, die über die Vereinigten Staaten hinaus einen weiten Leserkreis gefunden haben. Es sind Leser, die eine spannende Handlung mit politischem Hintergrund ebenso zu schätzen wissen wie einen professionell aufgebauten Kriminalfall und Gesellschaftskritik.

Es ist eine Stärke von Patterson, daß er in seinen Romanen alle diese inhaltlichen Elemente bietet - mal mehr, mal weniger - und diese Komposition beherrscht. Bereits sein Erstling, Das Siegel des Schweigens, brachte ihm den Edgar Allan Poe Award ein. Das vorliegende Buch,
folgend auf Das Maß der Schuld und Tage der Unschuld sowie In letzter Instanz (sämtlich bei
C. Bertelsmann), ist besonders gekennzeichnet durch kritische Einmischung in Themen der aktuellen politischen Diskussion in den USA. Sie sind seit Jahren, ja seit Jahrzehnten bedeutsam und werden es weiter bleiben. Ihr Gewicht liegt auch für Deutschland auf der Hand.

Diese Themen reichen von Korruption und Bestechung staatlicher Amtsträger über kriminelle politische Intrige, Geldwäsche durch Spender und Parteien vor und für Wahlen bis zum Machtmißbrauch durch Medien- und Pharmakonzerne, tödlichen Gebrauch weithin zugänglicher Waffen, Argumente für und wider Abtreibung, Schutz und Verletzlichkeit der Privatsphäre, nicht zuletzt ethnische Probleme. Patterson hat mit diesen recht unterschiedlichen Ingredienzien keinen undefinierbaren Cocktail gemixt, sondern einen klar aufgebauten Gesellschaftsroman zu Papier gebracht, der die heutigen USA einschließlich ihrer politischen Führungsschichten weder schont noch schönt, ohne die obersten Ämter etwa demontieren zu wollen. Der Titel der Originalausgabe, No Safe Place (1998 bei Alfred A. Knopf, New York), gibt den Grundtenor ausgezeichnet wieder: Es ist kein sicherer Platz in diesem von Gegensätzen geprägten, geplagten, geschundenen, zerrissenen reichen Land. Bei aller Kritik aber bleibt es ein staatstragendes Buch: Das System ist schon o. k., es muß nur erheblich verbessert werden.

Es geht - wieder einmal - um einen fiktiven Präsidenten der USA, ein inzwischen nicht mehr ganz neues Thema in der angloamerikanischen Gegenwartsliteratur. Die oberste Macht darzustellen, sie zu vermenschlichen, Licht und Schatten zu zeigen und mit ihr im Licht zu stehen scheint eine Aufgabe von magischer Anziehungskraft zu sein. Denken wir nur an Baldaccis im besten Sinne reißerischen ersten Bestseller Der Präsident (verfilmt als „Absolute Power“) und an Das elfte Gebot des Engländers Jeffrey Archer, ein inhaltlich weniger gutes, ja abzulehnendes, aber routiniert geschriebenes Buch. Diesmal begegnen wir dem künftigen US-Oberhaupt Kerry Kilcannon, Präsidentschaftskandidat der Demokraten, in der Endphase seines entnervenden Wahlkampfes gegen einen skrupellosen Mitbewerber, der bereits als Vizepräsident amtiert und diesen Vorteil weidlich ausschlachtet.

Die Schilderung des Countdown im sonnigen, von wirtschaftlicher Dynamik und sozialen
Gegensätzen gekennzeichneten Kalifornien ist lesenswert und dürfte auf eingehenden Detailrecherchen fußen. Ebenso interessant und gelungen ist die Darstellung der Hauptpersonen: Kilcannon, gradliniger Senator irischer Abstammung, und seine heimliche Geliebte Lara Costello, eine Fernsehreporterin, die ohne sein Wissen abtreiben ließ und zwei Jahre auf Auslandsposten ging, um ihm für die Bewerbung um das höchste Staatsamt den Rücken frei zu machen. Diese Beziehung und ihre Folgen wollen Kilcannons politische Feinde im Wahlkampf gegen ihn ausschlachten. Der kann sich nur durch eine Gegendrohung retten - seine Helfer haben ein Stück schmutzige Wäsche ausgegraben, das sein Mitbewerber im Schrank hat. Er verprügelte vor langer Zeit seine Frau. Nur einmal, dafür aber aktenkundig.

Dem Autor ist es auch und insbesondere gelungen, die ständige Bedrohung nacherlebbar zu machen, der US-Politiker ebenso wie einfache Leute durch Schußwaffen ausgesetzt sind, die man sich überall verschaffen kann. Wer da schießen will und schießt, sind Psychopathen und Verzweifelte, Sektierer und Eifersüchtige, Geltungsbedürftige und Trunkenbolde, Drogensüchtige und ganz gewöhnliche Kriminelle. Das ist ebenfalls lebensecht: Kilcannon, der schließlich selbst zur Zielscheibe wird, hat vor Jahren seinen Bruder verloren - er wurde im Wahlkampf auf offener Bühne erschossen. Ein immerwährender Alptraum für den Überlebenden.

Selbstverständlich zieht Patterson Parallelen zu den tödlichen Anschlägen auf den Präsidenten John F. und den Justizminister Robert Kennedy, auf Martin Luther King und andere Politiker. Die Anklage gegen die Waffenlobby ist ebenso deutlich wie der Hinweis auf ein scheinbar ganz anderes, ganz persönliches Problem in vielen US-Familien, die Mißhandlung der Frau durch den Ehemann und die Wirkung solcher Gewalttaten auf die Kinder. Kilcannon hat auch dies selbst miterlebt - bis zu seinem, des Sohnes, Aufstand gegen den brutalen Vater.

Ein rundum gelungener, spannender, informativer, parteiergreifender Roman. Es empfiehlt sich, die Danksagung (am Schluß des Buches) vorab zu lesen. Hier legt der Autor einen Teil seines Schaffensprozesses und seine Absichten dar. Er möchte sich vor Mißdeutungen schützen. Keinen Schlüsselroman habe er geschrieben, sondern eine fiktive Geschichte. Position, Charakter und Haltung der Hauptperson seien „in keiner Weise denen heutiger Politiker nachempfunden“. Unverkennbar aber ist, daß die Ansichten Kerry Kilcannons, „die durchaus von einem Parteirebellen vertreten werden könnten“, sich mit den Sympathien des Autors decken, und zwar nicht nur bisweilen, wie er einschränkend schreibt. Dieses Buch verschafft auf unterhaltsame Weise einen breiten Zugang zur realen Welt der Politik in den USA und gibt Einblick in ein schmutziges Geschäft, indem es eine imaginäre Welt realistisch darstellt.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 08+09/00 (c) Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

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