Eine Rezension von Volker Strebel


Ein Fasan der tschechischen Prosa

Jirí Kratochvil: Unsterbliche Geschichte
Aus dem Tschechischen von Kathrin Liedke und Milka Vagadayová.
Ammann Verlag, Zürich 2000, 299 S.


Ein Roman in fünf Büchern, das klingt nach Überschaubarkeit! Tatsächlich rollt in diesem Buch eine gewaltige Welle ausschweifender Phantasie über den Leser hinweg, um ihn früher oder später dann auch tatsächlich mitzureißen. Es bleibt ihm schließlich nichts anderes übrig!

Jirí Kratochvil brennt ein gigantisches Feuerwerk ab, welches seinen flackernden Schein über das gesamte 20. Jahrhundert wirft. Die Ich-Erzählerin dieses Romans, Sonja Trotzkij-Sammler, beginnt bei ihrer Geburt, die in die Silvesternacht vom 31. Dezember 1899 auf den 1. Januar 1900 fällt, zu berichten. Die Erzählperspektive wird für diesen gesamten Roman typisch werden. Aus einer Distanz heraus beobachtet Sonja das Geschehen - in diesem Falle die eigene Geburt - und plaudert darüber in einer vertraulichen Weise - so daß zu erkennen ist, daß sie die Dinge bewußt miterlebt hat.

Drei Tage nach Sonjas Geburt ertrinkt der zwölfjährige Bruno, nachdem er in die zugefrorene Donau eingebrochen war. Bruno aber war Sonja vorherbestimmt, und in den vorliegenden fünf Büchern begegnet er in unterschiedlichen Lebensstadien seiner Sonja wieder - als Schimpanse, Hirsch, Wolf, Elefant und Panther! Diese Verwandlungen sowie die vorherbestimmte Liebe signalisieren die verschiedenen zeitlichen Ebenen wie auch metaphysischen Dimensionen, welche Sonjas Lebensbericht kennzeichnen. Diese Geschichte eines Jahrhunderts verläßt den realistischen Raum und seine bloße zeitliche Abfolge von Ereignissen - um ihn zu überhöhen und damit das ewige Diktat von Zeit, Logik und Wirklichkeit zu durchbrechen: „So geht es jedem. Bevor wirklich etwas passiert, haben wir es schon hundertmal gesehen, hundertmal gehört oder gelesen, aber es nützt nichts! Wir wollen nicht begreifen, daß alle Geschichten wahr sind! Und früher oder später werden sie alle geschehen.“

Sonja erzählt und schaltet Zeit- und Raumebenen hinzu, so, wie alles eben gewesen sein soll, und das heißt, daß sich reale Geschehnisse und Visionen munter verbinden. Es gibt keine nüchterne Realität mehr, die Wirklichkeit ist überlagert von weiteren Schichten bunter Bilder. „Vision“ kommt von „videre - sehen“, das Leben ist Vision!

Daß in diese Fülle von Bildern und Metaphern immer wieder poetische Kleinodien fallen, mag ein unbeabsichtigtes Nebenprodukt sein, welches so manches Mal den eigentlich zu erzählenden Sachverhalt in den Hintergrund stellt. In besonders betörender Weise gelingt eine solche „poetische Vision“ in der Schilderung eines Familienausflugs in die Karpato-Ukraine, als der Ruthene Djurka der Familie ein schönes Geschenk im Wald verspricht. Er deutete auf einen hellen Lichtstreifen im Wald: „Und das, bitte schön, ist die Schleife von dem Geschenk! Sofort traten wir näher, um das Geschenk endlich auszupacken.“ Die Familie wandert in diesen finsteren Wald mit seinem einbrechenden Lichtstreifen und erhält Einblick in ein bewohntes Zimmer: „Vater trat ein paar Schritte zurück und wir mit ihm, und sofort tauchte die halboffene Zimmertür wieder auf, als wir aber noch einen weiteren Schritt zurück machten, verschwand sie erneut. Das hieß, daß man die halboffene Tür lediglich von einer bestimmten Stelle in der Schneise aus sehen konnte. Von da jedoch deutlich und unerbittlich.“

Benommen legt der Leser am Ende die Lektüre weg und wundert sich, von welchen bisher unbeachteten Kleinigkeiten sich seine Phantasie plötzlich anregen läßt. Kratochvils Roman ist eine Werkstatt sich verschärfender Wahrnehmung. Im Dezember 1999 hatte Jirí Kratochvil in seiner Heimat die höchste literarische Auszeichnung Tschechiens, den Jaroslav-Seifert-Preis, erhalten.

Tatsächlich kommen in diesem Buch noch Luftschiffe vor, Sodomie, eine geistliche Levitation sowie Abführmittel, eigentlich alles, was man sich kaum vorstellen kann. Es liegen pralle Seiten mit zauberhaften Lügereien vor, leichtfüßig daherkommend und dennoch glaubwürdig in ihrer Durchschaubarkeit! Es zeichnet diese künstlerische Prosa aus, daß es eben nicht gelingen kann, sie in verkürzten Worten darzustellen. Auch in diesen vorliegenden Zeilen konnte dies nicht gelingen. Der Roman ist ganz anders, er ist eine unsterbliche Geschichte.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 08+09/00 (c) Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

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