Eine Rezension von Marianne Gerber


Kindheit, von Tod umgeben

Jelena Koschina:
Durch die brennende Steppe
Aus dem Russischen von Annedore Nitschke.
S. Fischer Verlag, Frankfurt/M. 2000, 206 S.


Jelena Koschina (geb. 1933), langjährige Kustodin an der Leningrader Eremitage und in den 80er Jahren in die USA ausgewandert, versteht es nicht nur, kunstgeschichtliche Werke zu verfassen. In diesem wunderschönen Buch über ihre Kindheit stellt sie auch ihr erzählerisches Talent unter Beweis.

Es ist keine normale Kindheit, die hier geschildert wird, sondern die furchtbaren Erlebnisse der neun- bzw. zehnjährige Jelena, die die Leningrader Blockade mit ihrem Hunger überstanden hat, den „Lebensweg“ über den vereisten Ladogasee, den wochenlangen Transport der Evakuierten direkt in das südliche Kampfgebiet und hier - in dem Kosakendorf Kuschtschewka, 80 km von Rostow entfernt - sieben Monate deutscher Besatzung erlebt. Es sind die Erfahrungen von Hunger, Krankheit, Apathie, Fremde und vielfachem Tod, die kaum ein Erwachsener verkraftet und die das Mädchen an den Rand einer chronischen Depression bringen. Aber Jelena Koschina erzählt auch von ihrem Heilungsprozeß, von den grandiosen Strategien ihrer Mutter, während der Besatzung seelisch zu überleben, ihrer allmählichen Gesundung durch die Schönheit der Steppe und die bleibende Erfahrung von menschlicher Würde bei den Kosakenfrauen. Es sind Jahre, in denen sich ihre Persönlichkeit formt, aber auch „Jahre einer freien, bei aller Schwere durch nichts eingeengten und verfälschten Kindheit“. Im nachhinein empfindet die Autorin ihre Zeit als Dorfmädchen, das die Pferde hütete und ritt, das sich bei jedem Wetter barfuß in der Steppe herumtrieb, als großes Glück.

Die eigentliche Geschichte spielt zwischen dem Sommer 1942 und dem Sommer 1943. In dem Kosakendorf Kuschtschewka, wo die Schicksale aus dem Süden und dem Norden aufeinandertreffen - die halbtoten Leningrader Evakuierten und die von der Sowjetmacht enteigneten Einheimischen, deren Landsleute und Angehörige vor dem Krieg verbannt wurden oder auf Todestransporten umgekommenen sind -, werden die Fremden aus dem Norden kalt aufgenommen. Am 31. Juli 1942, dem Vorabend von Jelenas neuntem Geburtstag, flieht sie mit ihrer Mutter durch die brennende Steppe vor den einrückenden Deutschen. Sie müssen im Freien übernachten, weil die Kosaken ihnen kein Quartier gewähren. Als die Deutschen Kuschtschewka erobern, werden sie von den Einheimischen mit Brot und Salz empfangen, denn sie haben versprochen, die Kollektivierung rückgängig zu machen.

Das Kind Jelena erlebt - oft nur halb verstanden - die Widersprüche zwischen einer sowjetischen Herrschaft, die ganze Familien und Kulturen zerstört und geradezu mit Zynismus ein neues „Kastenwesen“ kultiviert hat, und dem menschlichen Wert einzelner, die das offizielle Schwarz-Weiß-Denken nicht teilen bzw. nicht zu korrumpieren sind. Sehr eindrücklich ist die Gestalt des Großvaters geschildert, eines ehemaligen Popen, der die allgemeine Verachtung und die Schikanierung seiner Kinder - aber auch deren Distanzierung von ihm - in Kauf genommen hat, ohne seinen geistlichen Stand abzulegen „Es ist überaus wichtig zu wissen, daß es in der eigenen Familie Menschen gab, die nein sagen konnten“, schreibt die Autorin. „In schwersten Augenblicken hilft das. Manchmal erweist es sich als der einzige Halt.“ Eine Fotografie des Großvaters und dessen Brustkreuz im Koffer der Mutter retten diese - deren Mann als Offizier und Kommunist an der Front kämpft - und Jelena vor der Erschießung durch einen deutschen Besatzungssoldaten.

Auch die Mutter gehört zu jenen seltenen Menschen, die ihre eigene Wahrheit leben. Das Buch ist eine heimliche Hommage auf diese ungewöhnliche Frau. Als sich ihr im belagerten Leningrad die Chance bot, als Offiziersfrau mit ihren Kindern ausgeflogen zu werden, lehnte sie ab, um die Großmutter nicht allein zurückzulassen. Ihre Entscheidung kostete sie zwei Kinder, die den Hunger und die Evakuierung der „normalen“ Bevölkerung nicht überlebten. Für sie ist es selbstverständlich, auch einem Desserteur zu essen zu geben; sie weigert sich, über anderen Flüchtlingen, die die Not demoralisiert hat, den Stab zu brechen.

Zusammen mit einer Kosakin und einer anderen Leningrader Flüchtlingsfamilie leben Jelena und ihre Mutter fernab dem Dorf, das für sie während der deutschen Besatzung zu gefährlich geworden ist. „Mitten in diesen Äckern, weit von jeder Behausung entfernt, stand die Kate der Brigade. Ein Holzhaus wie alle in dieser Gegend - gestrichen, mit Stroh- oder Schilfdach, nur sehr langgestreckt, wodurch es mehr einer Scheune oder Baracke glich als einem Wohnhaus.“ In dem mittleren Raum lagert Saatgut, treffen sich die Kolchosbäuerinnen im Sommer zum Mittagessen. Einen der beiden kleinen Seitenräume teilen sich die zwei Leningrader Familien. Im Sommer bezieht die Mutter den Pferdestall, den sie mit duftenden Kräutern auslegt und mit Blumengirlanden schmückt. Großartig ist die Initiative, mit der diese junge Frau gegen die Angst und Bedrücktheit während der deutschen Besatzung ankämpft. Sie unterrichtet die in der Scheune lebenden Kinder und gibt ihnen damit eine Ordnung, das Gefühl der Sicherheit. Für die langen Abende besorgt sie im Dorf Belletristik. „Nie habe ich erlebt, daß Bücher das menschliche Leben so erfüllen und erhellen können“, erinnert sich die Tochter. Die Bedrohten merken verwundert, „daß der Abend überhaupt eine besondere und schöne Zeit ist“. Als die Mutter feststellt, daß die Kinder begonnen haben, die einheimische Aussprache anzunehmen, werden abends russische Klassiker - vor allem Puschkin und Gogol - laut gelesen. „Man hätte denken können, es gäbe sonst überhaupt nichts Gefährliches und Schweres in unserem Leben, und das größte Problem sei, daß Dagmara und ich nicht mehr korrekt ,hör zu` betonten“, konstatiert die Autorin. Im Gegensatz zu den meisten Menschen ist ihre Mutter der Meinung, man könne auch in der schwierigsten Situation noch etwas tun. „Wahrscheinlich gibt es elementare, aber untrügliche Tests zur Bestimmung der menschlichen Würde oder einfach des menschlichen Werts. Zum Beispiel, ob jemand sagt, ,Was können wir machen!` oder ,Man kann immer etwas machen`“, resümiert Jelena Koschina. Die Stärke ihrer Mutter ist ihr seit jenen Tagen zum Maßstab geworden.

Sehr einfühlsam beschreibt die Autorin das sich allmählich wandelnde Verhältnis der Kosakinnen zu den Leningradern. Die generelle Ablehnung der Russen, die bereits von der neunjährigen Jelena mit aller Schärfe empfundene eigene Isolation unter den Einheimischen bedrücken sie. Als die Deutschen die Kolchosen nicht auflösen, vielmehr im Dorf zunehmend plündern und füsilieren, erlöschen die ursprünglichen Sympathien für sie, die Kosakinnen begegnen den Leningradern nun freundlicher. Jelenas Mutter, die von den Dorfleuten allgemein geschätzt wird, arbeitet seit dem Sommer 1943 als Kontrolleurin in der Kolchose. Abends singen sie gemeinsam mit den Kosakenfrauen russische und ukrainische Lieder. Die zehnjährige Jelena erzielt mit ihren Erzählungen der griechischen Göttersagen bei den Frauen stürmische Erfolge. Auch in der Dorfschule, die sie nach der Befreiung besucht, erlebt das Kind die Andersartigkeit der Kosakenmädchen, die sich weder für das Frontgeschehen noch für Bücher interessieren, aber bereits kleine Hausfrauen und Bäuerinnen sind. Sie lernt einen anderen, völlig intakten Ehrenkodex kennen, den sie allmählich versteht. „Irgendwie gewöhnte ich mich daran, gerade Schultern, einen ungebeugten Hals, nicht gesenkte Augen, eine feste Meinung und die Aufrichtigkeit, sie zu äußern, als schlichte Norm menschlichen Verhaltens zu betrachten“, schreibt die Autorin. Auch die „ausgeprägte, schwungvolle Lebensfreude“ der Kosakinnen wirkt ansteckend.

Als im Spätsommer 1943 die ersten Leningrader in ihre Heimatstadt zurückkehren, kann Jelena deren Freude nicht teilen. Der strahlende nächtliche Himmel über der Steppe, ihre Düfte und nächtlichen Stimmen, die grenzenlose Weite und Ungebundenheit dieser Landschaft haben es ihr angetan. Sie ist auf diesem Boden gesund geworden und wird sich von ihm lebenslang beschenkt fühlen.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 08+09/00 (c) Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

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