Eine Rezension von Ron Winkler


„Keine Vorstellung von der Topografie des Paradieses“

Reinhard Jirgl: Die atlantische Mauer
Roman.
Carl Hanser, München 2000, 450 S.


Sicher ist es keine politische Allegorie, die dem Roman das erste Gesicht gibt. Aber jene ersten Sätze, die Die atlantische Mauer erschreiben, schließen nicht aus, daß ihr Abbild sich auch als Nachzeichnen des eisernen Strichs zwischen Ost und West verstehen läßt. Als Versuch am Ins-Wort-Bringen der einstigen Systemscheide und deren Erosion. „Auflodernd Sonnengelb, als hätten plötzlich stille Flammen den Vorhang ergriffen. Vor das hohe Fenster gezogen, hat der grobe schwere Stoff bislang dem Warteraum nur karges Licht gelassen, i Patientenlicht gewissermaßen, Rationen aus dem Vorraum für die Eingeschlossnen“.

Zwischen den Zeilen steht eine historische Zäsur, aus der Gegenwart heraus betrachtet. In und von den Zeilen wird diese verhangene Welt durch „i historischen Lichtstreif berührt“. Doch bleibt die Ironie verbal, die Zeit liegt träge, und die Sätze bilden sich in gebremstem Ernst.

Jirgls Ortsbeschreibung am Vorhang hat eine sichere Statik, eine sich nachtragende Stasis auch für den, der hier zum Sprechen gebracht wird, „zwischen einem unfaßbaren Drinnen=hier u: den unfaßbaren Weiten eines Draußen“.

Liest man sich in den Roman hinein, löst sich das subtile Bild für die politische Welttrennung schnell auf. Der Spalt an sich bleibt bestehen - die halbierte Welt, in der die eine Seite durch die andere nicht zu erkennen ist. Für das eine, Heimat genannt oder gewohnte Ordnung, liegt das andere, das Potentielle, unter Verschluß. Der Aufenthaltsort ist nicht der erträumte Ort, und das erträumte Land, wird sich zeigen, bietet keinen Halt für eine neue Realität.

Jirgl erzählt keine immens tragische Geschichte, sondern eine nüchterne, aus dem Zählmaß abgeklärter Erfahrung gebaute. Sein Text liefert Mauerbeschreibungen sozialen Verhaltens und fokussiert dabei vor allem das durchaus problematische Untereinander der Menschen, aber auch den weitgehend internen psychischen Treibsand. Die atlantische Mauer ist mehr oder weniger nur eine Richtschnur für aktive und passive menschliche Verstörungen diesseits und jenseits des atlantischen Grabens.

Alles ist Exodus: entweder zynische Hatz oder Fluchtbewegung. Eine Krankenschwester flieht in die Neue Welt, um sich („ein krankes Gewebe, das über-die-Jahre durch-mich hindurchgewuchert war“) und den dazugehörigen Konstellationen zu entkommen. Doch die atlantische Mauer läßt sich zunächst nicht durchdringen. Wegen einer kleinen Illegalität prallt die Fliehende am Kennedy Airport ab und wird nach Europa zurückgeworfen. Und sie sieht sich vorerst zurückgeschickt in den Aktionsraum nahezu inflationär ausgeübter Kabalen, in die Erinnerungswelt der eigenen Familie, einer trotz aller Geistesaristokratie kleinbürgerlich gebliebenen.

Jirgl ufert jenes familiäre Umfeld aus und innoviert das immergleich Quälende mittels ausdauernder sprachlicher Filigran-Arbeit, deren Entfremdungsgestus echt ist und existentiell scheint. Das Leben wird reflektiert als Sich-ab-Leben, als körperlicher und geistiger Mißbrauch. Der Roman gerät dabei nahe an essayistische Weitschweifigkeit, sich inhaltlich zitierende Lebenserkundungen. Das Fazit aber der dramatischen Spannungen von „Ostwestfleisch“ und Mannfraufleisch oder homoerotischem Fleisch ist einfach: „Sie blieben sich besser fern.“

Die Erzählung sucht sich einen neuen Raum, fortgesetzt seelische Steinbrüche im Visier. Jirgl nominiert die Gesellschaft zur „Menschenschwemme“, und sein Referent ist ein Irrenhausinsasse. Jener, reflexionsträge in der Selbstanalyse, schwingt sich zu immer wieder präzisen Sektionen von Geschichte und Gesellschaft auf. Seine herz-erfüllte Haßtirade gegen die gesellschaftliche „Kadavermühle“, „Alltagskehricht“ und metropolen Wahn wirft sich in einem stark delirischen Sog immer aufs neue ins (sprachliche) Gefecht. Selbst hoffnungslos an der Möglichkeit zur Überwindung einer atlantischen Mauer vorbeigespült, franz-biberkopft er sich verbittert in einen großen Monolog gegen das Bestehende, das ihm nur das Exil eines panischen Bewußtseins gelassen hat: „amputiert zertreten zerschnitten niedergeschlagen vergast“.

Am anderen Ende des Romans wird das „Promised Land“ hinter dem Ozean schließlich erreicht. Doch die „Zentnerlast aus schlammig gewordener Vergangenheit“ begleitet auch den erneuten Fluchtversuch der Krankenschwester und die Ausreise eines kreativitäts-gealterten Schriftstellers. Hinzu kommt, daß das „neue“ Land nicht mehr als eine hier beschleunigte, dort in noch größere Konservierungen gepreßte Folgestufe deutscher und europäischer Gewohnheiten und Ge-Bilde ist, mit am Rand Private-Property!-Schilderwäldern als Wiederaufnahme-Ikonographie eines bereits bekannten Systems.

Für den Schriftsteller, der auf Wunsch seines dort lebenden Sohnes aussiedelt, ist Trans-Atlantika letztlich nur eine erweiterte Grabkammer und kein Traumland. Während die ehemalige Krankenschwester genügend Affirmationspotential mitbringt, um in das „Fleisch der Träume“ einzugehen, bekommt er keinen Raum mehr für die nötige Metamorphose.

Wie in vorangegangenen Texten werden auch in der „Atlantischen Mauer“ die manchmal recht kargen Erzählflächen durch eine sich sprachkreativ austobende Textformung erweitert. Der avantgardistische Stil ist essentieller literarischer Raum. Jirgls Sprachlichkeit - mit Wolfgang Emmerichs „wüstem Chaotismus“, mit Erik Grimms „kompromißlos sperriger Form“ - macht den Roman zu einem eigenwillig zersetzten Netzwerk.

Jede menschliche Fehlleistung und jede überall verbreitete Eingeschliffenheit wird durch die unkonventionell-kantige Intelligenz des literarischen Sprechens gebrandmarkt. Den „Eingeschlossenen“ des Romans steht die Aufgeschlossenheit der Sprache verstärkend gegenüber. Mit arno-schmidtschen Wortverlagerungen, energisch betrieben, und permanenter Satzbrecherei gelingt Jirgl eine tiefe Reflexion der schiefen Lebenswelten seiner Figuren. Dabei besteht die Gefahr, durch den Bonmotismus der Gedanken die Details der Erzählung zu verlieren. Die Fülle der verhagelten Impressionen macht es kaum möglich, die einzelnen Verlaufsformen des Romans deutlich zu erinnern, ihn sich als mehr als nur ein Gesamtbild erlesen zu können.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 08+09/00 (c) Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

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