Eine Rezension von Horst Wagner


Ein bemerkenswertes Zeit-Panorama

Christoph Hein: Willenbrock
Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 2000, 319 S.


Die „Frankfurter Allgemeine“ brachte den Roman im Vorabdruck und nannte ihn eine „Teufelspakt-Erzählung“. Der „Spiegel“ überschrieb seine Rezension „Wildwest im Ossi-Land“ und bezeichnete das Buch als einen „Romanreport“, der „passagenweise wie eine Rohfassung“ wirke und deshalb ein „getrübtes Vergnügen“ sei. Rolf Schneider bemängelte in der „Berliner Morgenpost“ am Neuling seines Schriftstellerkollegen dessen „verblüffende Austauschbarkeit“. Die Literaturkritikerin des „Neuen Deutschland“ dagegen sieht in Willenbrock den „längst erwarteten Wenderoman“, der die „Ungerechtigkeit im Lande und in der Welt“ beleuchtet, sich auch mit Ausländerhaß auseinandersetzt und in einer „präzisen klaren, Sprache, ohne Schnörkel“ geschrieben ist.

Ein Roman also, der, kaum daß er erschienen ist, große Aufmerksamkeit gefunden hat und offenbar nicht unumstritten bleibt. Das war mit Heins Büchern auch schon früher, zu DDR-Zeiten, so. Vielleicht stärker noch als heute, war Hein doch einer der systemkritischsten Autoren der untergegangenen Republik, der auf dem 10. Schriftstellerkongreß im November 1987 offen die Abschaffung der Zensur forderte. Seine Bücher galten zu dieser Zeit vielen als spektakulär oder sogar rebellisch. Ob Der fremde Freund (1982), der in Westdeutschland als Drachenblut erschienen ist, ob Horns Ende (1985) oder Der Tangospieler (1989), ihre zentralen Figuren entsprachen so gar nicht den realsozialistischen Leitbildern. Mit dem Wegfall der Zensur und dem Einzug der nun das literarische Geschäft regelnden Marktwirtschaft war Hein, so schien es einige Zeit, auch seine Leserschaft abhanden gekommen. Ein neuer Durchbruch gelang ihm 1997 mit dem autobiographisch gefärbten Roman Von allem Anfang an, in dem aus der Sicht eines dreizehnjährigen Jungen sehr einfühlsam und differenziert DDR-Alltag der 50er Jahre geschildert wird.

Nun also mit Willenbrock der Zeitsprung in die realkapitalistische Gegenwart. „Teufelspakt-Erzählung“ (FAZ) scheint mir ein stimmiger Begriff für dieses Buch. Bernd Willenbrock, zu DDR-Zeiten fachlich versierter, aber politisch als unzuverlässig geltender Ingenieur in einer Rechnerfabrik, ist mit Unterstützung seines Westonkels nach vorübergehender Arbeitslosigkeit Gebrauchtwagenhändler in Berlin geworden. Er ist in der Marktwirtschaft angekommen und hat seinen Pakt mit ihr geschlossen: Es geht ihm „spitzensteuersatzmäßig“, wie er etwas prahlerisch auf die Frage eines früheren Vorgesetzten antwortet. Andererseits - und das eben ist der Hauptinhalt des Buches - fühlen er und seine Frau sich in der neuen Ordnung zunehmend bedroht und werden von ihr innerlich entleert. War Von allem Anfang an ein stilles, nachdenkliches Buch, dazu angetan, immer wieder einmal zurückzublättern, so kommt dieses eher ein wenig laut daher, läßt sich leicht lesen, beginnt temporeich und mit von manchem vielleicht als Kolportage empfundenen Anreizen. Gleich auf der ersten Textseite werden Willenbrock Mädchenbrüste entgegengestreckt (allerdings nur aus einem Herren-Magazin), auf den folgenden kauft er einem verarmten Maler sein altes Auto ab, verführt in der Mittagspause eine junge Kundin nach zwei Glas Sekt in einem Hotelzimmer, findet aber, kurz darauf zu seiner Frau zurückgekehrt, daß er mit dieser „das schärfste Mädchen zu Hause hat“, und geht mit ihr deshalb gleich zweimal hintereinander ins Bett. Auf Seite 37 wird es dann kriminell: Sieben Autos sind von Willenbrocks Hof gestohlen worden, wahrscheinlich von der Russenmafia.

Ist man aber von der auch später noch gelegentlich vorkommenden Erotik bald enttäuscht (sie bleibt erstaunlich steril und wird zumeist vorzeitig ausgeblendet), wird man auch aus der Krimihandlung nicht so ganz schlau (man versteht bloß, daß die Polizei so gut wie nichts machen kann oder will), so spürt man doch bald Heins ganzes Können als kritischer, manchmal schockierender Gesellschafts-Schilderer. Bürokratismus und Ausländerfeindlichkeit sind in dieses Panorama verwebt. Snobismus, Geltungssucht und brutale Geschäftsmethoden triumphieren zunehmend über immer wieder in Erinnerung kommende Freundlichkeit und menschliche Nähe. Zentrales Thema wird die erschreckend zunehmende Gewalt. „Jede Woche haben wir einen Fall wie Sie“, sagt der ihn behandelnde Arzt zu Willenbrock, nachdem dieser bei einem neuerlichen Einbruch brutal zusammengeschlagen wurde. „Man sollte Mauern bauen. Überall Mauern, anders ist der Menschheit nicht beizukommen ... Wilde Bestien werden auch in Käfigen gehalten.“ Die Ursachen? Hein macht deutlich, daß sie nicht nur darin zu suchen sind, daß - wie ein Westberliner Ehepaar meint - „Sibirien jetzt vor unserer Haustür beginnt“. Er zeigt die Gefahren auf, die aus einem falschen, rechtsextremistischen Ausweg erwachsen könnten. So, wenn ein Tischler aus Mecklenburg „Arbeitslager wie bei Adolf“ vorschlägt.

Willenbrock greift schließlich zum Revolver, den er von seinem russischen Freund und Kunden Krylow, einem früheren Sowjetfunktionär und heutigen Bewunderer bundesdeutscher „Rechtsstaatlichkeit“, geschenkt bekommen hat. Die Schilderung, wie er diese Waffe untersucht, sie tagelang bei sich trägt, mit dem Gedanken spielt, sie gegen seine Frau zu richten, weil diese sich einen Liebhaber zugelegt hat, schließlich damit auf einen Einbrecher schießt und wie er das alles gedanklich „nachbereitet“, nimmt gut zwei Dutzend Seiten in Anspruch und ist ein sprachliches Meisterstück. Bürokratisch, wie ihn der „Spiegel“ nennt, kann ich Heins Stil nun wirklich nicht finden. Freilich, er ist gegenüber DDR-Zeiten einfacher geworden, weil nichts mehr verschlüsselt gesagt zu werden braucht, alles sehr direkt gesagt werden muß, um Wirkung zu erzielen. Manche mögen das als weniger kunstvoll empfinden. Es stimmt auch, daß zuweilen Banales auf vielen Seiten ausgebreitet wird. Aber auch das geschieht in einer präzisen Sprache und scheint mir ein Stilmittel zu sein, um ausufernde Banalitäten deutlich zu machen. Aber dazwischen immer wieder ganz komprimierte, gedankenreiche, überraschende Passagen: Wie Willenbrock z.B. auf einem Cocktailempfang seiner Frau, die es zur Boutique-Chefin gebracht hat, in ihr die „andere Susanne“ entdeckt, „eine Frau, die ich nie kennengelernt habe“. Oder das Gespräch mit Feuerbach, einem früheren Arbeitskollegen, der Willenbrock einmal bei der Werkleitung denunziert und eine Westreise vermasselt hat ...

Letzteres ist übrigens eine der wenigen „Abrechnungen“ mit der DDR-Vergangenheit im Buch. Neue Übel haben offenbar für Hein längst mehr Stoff geliefert als die alten. Mit Willenbrock ist er im Heute angekommen, sieht es wieder als Reibungsfläche und ist sich somit treu geblieben. Verblüffend austauschbar scheint mir - um mit allem Respekt Rolf Schneider zu widersprechen - nicht Heins Roman, sondern die in ihm geschilderten konkreten Geschehnisse und Zustände mit anderen, sehr ähnlichen, ebenso typischen in dieser Gesellschaft.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 08+09/00 (c) Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

zurück zur vorherigen Seite