Eine Rezension von Irene Knoll


Lebenswege

Helga Hegewisch: Die Totenwäscherin
Roman.
Ullstein Verlag, Berlin 2000, 398 S.


Familienromane sind als große Romane in die Weltliteratur eingegangen, Thomas Manns Buddenbrooks etwa oder Tolstois Anna Karenina oder auch Virgina Woolfs Die Jahre. Das Sujet ermöglicht, individuell-familiäre Entwicklungen in Verbindung mit Gesellschaftsentwicklungen darzustellen. Man sollte meinen, daß der Familienroman diese Bedeutung in demselben Maße verliert wie die bürgerliche Familie ihre staats- und gesellschaftstragende Funktion. Das ist wohl auch der Fall, dennoch werden weiterhin Familienromane mit stattlichem Umfang geschrieben. In jüngerer Zeit hat die Schwedin Marianne Fredriksson mit ihren Romanen Hannas Töchter und Simon in Deutschland sehr hohe Auflagen erreicht, und vermutlich wird auch Helga Hegewischs Buch seine Leser finden. Bei den beiden Autorinnen fallen Gemeinsamkeiten auf. Sie haben sich ihre Sporen in mehr oder weniger journalistisch angelegter Arbeit verdient und erst am Ende des Berufslebens mit groß konzipierten schriftstellerischen Arbeiten begonnen. Für ihre Erzählweise ist eine schlichte Sprache charakteristisch, der Erzählfluß läuft ruhig, die Konstellationen sind gut überschaubar, die Handlungsschritte werden bedachtsam vorbereitet. Sie können in der Erzählerrolle alles sagen, ohne in Affekte zu geraten, ein wenig altersgegebene Ausgeglichenheit schwebt über dem Geschehen, das von heute aus berichtet wird. Dabei werden jedoch Konflikte, die aus dem intimeren Zusammenleben der Romanhelden erwachsen, oder auch die zerstörerischen Wirkungen der historischen Ereignisse dieses Jahrhunderts auf ihr Leben nicht ausgespart. Es scheint, daß sich Leute wie du und ich, ganz gewöhnliche Leute, ihrer Herkunft und ihres Seins in der Zeit versichern. Und darauf beruht wohl die Wirkung dieser Romane und die Nachfrage danach, denn tatsächlich wäre wohl jedes Leben erzählenswert. Auf ein ausgeprägtes Interesse ihrer Leser an sozialgeschichtlichen Prozessen reflektieren die Autorinnen wohl kaum, Fredriksson vielleicht etwas mehr als Hegewisch. Sie orientieren sich am Lokalen, ihre Heldinnen hingegen sind eher Vorfahrinnen in ihrem Geiste. Das ist, wie man an Hegewischs Buch sieht, nicht ganz unproblematisch.

Helga Hegewischs Roman provoziert mit einem Titel, der auf Zusammenhänge weist, die mit großem Respekt, wenn nicht mit Scheu oder Furcht, konstatiert werden. Der Titel Die Totenwäscherin weckt Erwartungen, über diese tabuisierten Zusammenhänge, Sterben und Tod, von der damit Vertrauten etwas zu erfahren, was einem vielleicht selbst eine größere Freiheit im Umgang damit ermöglicht. Es ist also ein zugkräftiger Titel. Aber er blufft. Das Buch erzählt die Geschichte zweier Familien, die im Mecklenburgischen zu Hause sind. Die Lebenswege der Nachfahren von Magdalena, der Totenwäscherin, kreuzen sich im Verlaufe von hundertfünfzig Jahren ein paarmal mit denen der Nachfahren des Grafen Siggelow, dem das Dorf untertan ist. Der Roman beginnt mit dem Tod des Alten, dessen wutverzerrtem, furchterregendem Gesicht die Kunst der Totenwäscherin ein friedliches Aussehen zu geben vermag; am Schluß des Romans sind hundertfünfzig Jahre vergangen, und in der Urenkelin Magdalenas befrieden sich gewissermaßen die trennenden Gegensätze.

Das Buch beginnt mit diesem scharf profilierten Konflikt von Reich und Mächtig zu Arm und Unbedeutend. Unbedeutend ist in diesem Fall aber nicht ohnmächtig, denn die Totenwäscherin genießt wegen ihrer Kunst, das letzte Gesicht zu bestimmen, Respekt. Die Autorin stellt eine couragierte, gescheite Frau vor, die sich innerhalb der Gegebenheiten zu behaupten vermag. Dieser erste Teil ihres Romans ist der farbigste. Zwar wirken weiterhin starke und gewaltsame Begebenheiten und Ereignisse an den Wegen und Entscheidungen der Familienmitglieder mit, aber sie erhöhen nicht unbedingt die Anteilnahme an den Figuren. Mit Magdalena, deren Geschick und Berufung sich bei der Tochter und den Enkeltöchtern fortsetzt, hat Hegewisch eine kräftige Persönlichkeit konturiert, gegen die die nachfolgenden Frauen etwas blaß ausfallen. Man freut sich an manch guter Beobachtung und manchem Blick aufs Detail. Aber insgesamt braucht Helga Hegewisch zu viel Extreme, um Spannung zu erzeugen. Da muß die Tochter Barbara vergewaltigt werden, da muß eine inzestuöse Liebe unterbunden werden, da muß Barbaras Sohn Anton zum Judentum konvertieren und im KZ umkommen, da muß ein Sohn homosexuell sein, da muß die Ururenkelin Antonia Johanna Barbara einen Homosexuellen lieben. Das ist für eine Familie nicht nur sehr viel Schicksal, es offenbart auch, daß es in der Darstellung an innerer Spannung, an Dramatik unter den Figuren fehlt. Tatsächlich gibt es auch keine Kontrahenten, die zur inneren Auseinandersetzung der Frauen mit ihrer Umwelt und sich selbst reizen würden. In ihrer Persönlichkeit unterscheiden sich die Frauen der Generationen nach Magdalena kaum voneinander. Entwicklung wird zwar kenntlich gemacht - ihre Tätigkeit führt vom einfachen Herrichten der Toten im Dorf zum Bestattungsunternehmen mit mehreren Filialen -, aber es ist eben eine Entwicklung, die nach Maßstäben des gesellschaftlichen Prestiges gewertet wird, innere Entwicklungen finden nicht statt. Sicherlich ist Tüchtigkeit und Selbstbewußtsein der Frauen für solch Vorankommen nötig, sie bringen Opfer, Glück bleibt auf der Strecke. Diese Lebenswege wären viel mehr geeignet, den Verlust von Persönlichkeit und die Zunahme von Entfremdung zu Gunsten des gesellschaftlichen Aufstiegs zu zeigen, und das wäre auch ein sehr respektables Motiv, aber es war nicht das Anliegen der Autorin.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 08+09/00 (c) Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

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