Eine Rezension von Christian Böttger


Europäische Völkervielfalt im Überblick

Detlev Wahl:
Lexikon der Völker Europas und des Kaukasus
Meridian-Verlag, Rostock 1999, 232 S.


Im Gegensatz zu den in den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg vorherrschenden Modernisierungstheorien, wonach die ethnisch-kulturellen Besonderheiten der Völker das sogenannte Traditionale verkörperten, das die Durchsetzung der Moderne erheblich zu behindern schien, konnte man spätestens seit den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts feststellen, daß die Bedeutung ethnischer, religiöser und sprachlicher Faktoren nicht nur im Anwachsen begriffen war, sondern zunehmend auch politische Relevanz erhielt. Aus der Beobachtung und Dokumentation dieser Erscheinungen und Prozesse entstand die Idee, ein Lexikon zu erarbeiten, das nicht nur die großen Völker Europas behandelt, sondern das auch die kleinen Völker und Ethnien Europas und des Kaukasus einbezieht. Dieser Aufgabe widmete sich der Autor des hier vorliegenden Nachschlagewerkes, Detlev Wahl, Privatdozent am Institut für Soziologie der Universität Rostock.

Über die in einer ausführlichen Einführung gegebene Begründung für die Einbeziehung der Völker und Ethnien des Kaukasus in das Lexikon mag man allerdings geteilter Meinung sein. Wohl wissend, daß Europa in der Manytsch-Senke endet, erscheint es dem Autor „angesichts der interessanten ethnischen Vielfalt der Kaukasusregion, ihrer langen Bindung an Rußland, später die Sowjetunion, und vor allem der zahlreichen Konflikte in diesem Raum dringend geboten, die dort siedelnden Völker mit aufzunehmen“.

Das Buch gliedert sich inhaltlich in mehrere Teile. Nach der bereits erwähnten ausführlichen Einführung, in der grundsätzliche Probleme erörtert und Begriffe geklärt werden, folgt das alphabetisch geordnete Porträt der Völker. Es beinhaltet 147 Stichworte und Artikel mit ausführlichen Beschreibungen über Herkunft und Entwicklung, ethnische Besonderheiten und die ökonomische Basis der Völker. Die sich an den Stichwortteil anschließenden Erläuterungen zahlreicher wichtiger Begriffe von Akkulturation bis Weltwirtschaftskrise, die besonders dem Laien eine wertvolle Hilfe zum Verstehen der Texte bieten, kann hier als besonders leserfreundlich vermerkt werden. Das Buch endet nach dem Quellen- und Literaturverzeichnis mit einem Personenregister.

Von besonderem Interesse ist die ausführliche Einführung, da sie nicht nur eine konkrete aktuelle Einschätzung der ethnischen Prozesse der Gegenwart enthält, die eine weitgehende Korrektur bisher vertretener westlicher Positionen beinhaltet, sondern auch wesentliche Begriffe wie Volk, Staatsvolk, Ethnos, ethnische Minderheit, Nation und Titularnation erläutert. Dabei macht der Autor darauf aufmerksam, daß es „zu der mit ethnischen Prozessen verbundenen Begrifflichkeit sowie zur ethnologischen, soziologischen und politikwissenschaftlichen Ausdeutung und Bewertung dieser Prozesse selbst sehr verschiedene Auffassungen (gibt), die durch die weltweite Verstärkung von Autonomie- und Sezessionsbestrebungen, Regionalismus, Ethnozentrismus und Nationalismus eher noch zugenommen haben“.

Das gilt sicherlich in besonderem Maße für den Nationsbegriff, den er wie folgt definiert: „Die Nation ist eine Struktur- und Entwicklungsform menschlicher Gemeinschaft, in der sich im Verlauf des historischen Prozesses durch umfassende ökonomische, soziale, politische und soziokulturelle Modernisierungsprozesse ethnische Unterschiede nivelliert haben. Ungeachtet verschiedener sozialer Positionen und Interessenlagen haben die Angehörigen einer Nation grundlegende gemeinsame Wert- und Zielvorstellungen, ein Zusammengehörigkeitsgefühl (Nationalbewußtsein) und bilden eine territoriale Einheit, die mit dem Nationalstaat identisch ist.“ Diese umfassende Definition wirft aber mehr Fragen auf, als daß sie eine Antwort auf die Frage gibt: Was ist eine Nation? Sind es wirklich ethnische Unterschiede, die sich nivelliert haben, oder nicht vielleicht eher subethnische (bzw. regionale)? Haben sich dadurch nicht neue ethnische Gemeinsamkeiten herausgebildet? Schließlich existieren auch unter modernen Bedingungen die Merkmale eines Ethnos, nämlich Sprache und Kultur (Nationalkultur), psychische Wesensart (Nationalcharakter) und ethnisches Selbstbewußtsein (Nationalbewußtsein) fort. Warum scheut sich der Autor, die ethnische Seite der Nation zu benennen? Ist die Nation wirklich mit dem Nationalstaat identisch? Gehören die Südtiroler beispielsweise zur italienische Nation? Bildet Liechtenstein eine eigene Nation, weil es einen Staat darstellt? Wenn nicht, dann ab welcher objektiven Größe bildet ein Staat eine Nation? Der Rückgriff auf Wert- und Zielvorstellungen ist nicht einleuchtend und zwar nicht nur, weil es - wie man es zynisch ausdrücken könnte - in der kapitalistischen Gesellschaft nur einen Wert gibt, das Geld, und ein Ziel, nämlich möglichst viel davon zu besitzen. Sofern sie tatsächlich vorhanden sind, teilen wir Werte und Ziele sicherlich auch mit unseren Nachbarn (westliche Wertegemeinschaft), ohne mit ihnen zu einer Nation zu verschmelzen. Was wirklich die Nation ausmacht, das kann man immer noch am besten bei Otto Bauer nachlesen, dessen 1907 entwickelte Nationstheorie an Aktualität eher noch zugenommen hat.

Aber auch hinsichtlich der Völkerbeschreibungen gibt es einiges anzumerken. So fehlt in der Darstellung der Besiedlungsgeschichte Österreichs die Erwähnung der allemannischen Besiedlung Vorarlbergs, die nach dem Ersten Weltkrieg vorübergehend mit Anschlußbestrebungen an die Schweiz politische Relevanz gewinnen sollte. Unter dem Stichwort „Deutsche in weiteren Ländern Europas“ (S. 65) findet sich die Aussage von den in Südtirol gelegenen und personell im Wachstum begriffenen deutschen Sprachinseln. Tatsächlich handelt es sich aber um ein geschlossenes deutsches Siedlungsgebiet vom Brenner bis Salurn, das mit der Provinz Bozen über eine eigene territoriale politische Autonomie verfügt. Aus diesem Grunde hätte es für die Südtiroler eines eigenen ausführlich erläuterten Stichwortes bedurft.

Terminologische und methodische Schwierigkeiten ergeben sich andererseits aus der Darstellung der Österreicher als einer einheitlichen und eigenständigen, hier als „Volk“ bezeichneten ethnischen Einheit. Hier wäre der in der Einführung erläuterte Begriff des „Staatsvolkes“ wesentlich besser angebracht, denn die in Österreich lebenden Menschen sind deutscher, slowenischer (im südlichen Kärnten) und z. T. ungarischer bzw. kroatischer (im Burgenland) Nationalität. Will man die letztgenannten, staatlich anerkannten nationalen Minderheiten ebenfalls dem österreichischem Volk zuordnen, dann stimmt die in der Einführung (S. 23) vorgelegte Definition für den Terminus „Volk“ nicht mehr.

Eine wirklich durchdachte, logische und verläßliche Terminologie liefern immer noch die verwertbaren Teile der von osteuropäischen Ethnographen (J. V. Bromlej) entwickelten „Ethnos-Theorie“. Sie gestatten auch, die Nation als einen „ethno-sozialen Organismus“ und damit als eine spezifische Erscheinungsform des Ethnos unter den Bedingungen der Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft zu betrachten.

Diese Einwände sollen aber dem Wert des Lexikons keinen Abbruch tun. Gerade weil die an den verschiedenen Universitäten gelehrte „Europäische Ethnologie“ der gewachsenen Bedeutung ethnischer, religiöser und sprachlicher Faktoren meist nicht gerecht wird - sie folgen immer noch uneingeschränkt und moralisierend den gängigen Modernisierungstheorien - stellt dieses Lexikon einen bedeutenden Schritt in die richtige Richtung dar. Damit liefert es neben den im Stichwortteil zusammengetragenen Fakten eine wichtige Diskussionsgrundlage für die Theoriebildung und die daraus abgeleiteten Begriffe der Ethnologie.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 08+09/00 (c) Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

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