Eine Rezension von Friedrich Schimmel


Von abätzen bis Zwinger

Goethes merkwürdige Wörter
Ein Lexikon von Martin Müller.
Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1999, 216 S.


Als das Wort merkwürdig noch häufiger in der Gegenwartssprache zu hören war, gehörte es immer schon zu den merkwürdigsten Wörtern. Ein Wort für verschiedene Gelegenheiten: ein merkwürdiger Mensch, eine merkwürdige Idee, eine merkwürdige Erscheinung. Oder einer legte eine merkwürdige Gelassenheit an den Tag. Konnte man sich ein Verhalten nicht recht erklären, wurde es für merkwürdig befunden. Draußen konnte es merkwürdig still oder merkwürdig grau sein. Junge Leute heute quälen sich mit diesen seltsamen (merkwürdigen!) Adjektiv nicht mehr herum, für sie ist etwas entweder cool oder geil. Basta.

Die Bedeutung vieler Wörter kann sich maßlos erweitern oder sie kann kräftig schwinden. Manches Wort schlingert seltsam-merkwürdig durch die Sprachgeschichte. „Merkwürdig“ scheint ein solches zu sein. Erklärte man es im 17. Jahrhundert noch mit bemerkenswert und bedeutsam, so fand man es schon im 19. Jahrhundert nur noch seltsam oder verwunderlich. Seither war der Mitteilungswert des Wortes „merkwürdig“ gering, kaum noch des Merkens würdig.

Zuzeiten Goethes war alles noch ganz anders. Und auch das Wort merkwürdig hatte noch Gewicht, war noch mit bemerkenswert oder mit bedeutsam erklärbar. Dies muß auch den Bearbeiter dieses Buches veranlaßt haben, „einen Gang durch einen großen Teil von Goethes Werken und Briefen“ auf sich zu nehmen, „um alle ihm merkwürdig erscheinenden Wörter zu notieren und für das Lexikon auszuwählen“. Gibt es ja längst, das Goethe-Wörterbuch (seit den sechziger Jahren), auch sollten hier keine Wortfelder präsentiert werden, sondern nur „merkwürdige“ Wörter bei Goethe. Ein mehr unterhaltsames, ganz und gar kein wissenschaftliches Unternehmen also. Es sind, stellt der Leser sehr schnell fest, eigentlich auch nicht Goethes Wörter, wie der Titel etwas übertrieben suggeriert, es sind Wörter, die Goethe gebraucht hat, in einigen Fällen auch selbst erfunden hat, Namen für grotesk-satirische Figuren. Martin Müllers Absicht war es, den Bedeutungswandel der hier ausgewählten Wörter zu zeigen. Das wäre sicher noch viel interessanter, allerdings auch erheblich aufwendiger geworden, wenn er einen charakteristischen Zeitschnitt gemacht hätte, unter Hinzufügung „merkwürdiger“ Wörter von Goethes Zeitgenossen, vor allem seiner literarischen Antipoden.

Zwei Hauptgruppen gibt es. Die einen, die dem heutigen Leser sofort noch bekannt sind, und wo die Bedeutungsverschiebungen gering erscheinen. Die andere Hauptgruppe versammelt Wörter, die schon der Erklärung bedürfen. Dazu zählt beispielsweise das Wort Asch. Es kann Blumentopf, überhaupt Topf bedeuten. Meine Großmutter sprach noch vom Aschkuchen. Auch irdenes Geschirr ist möglich, aber auch Esche, also Baum. Viele Wörter erscheinen nicht merkwürdig, sondern eher phantastisch oder kurios. Das heißt, mit der Merkwürdigkeit ist es in diesem Buch fortwährend so eine merkwürdige Sache. „Anfrischen“ kann mit aufmuntern,neu beleben oder auch erfrischen erklärt werden. Ein „Gau“, älteren Lesern allemal noch als Landstrich oder Gegend vertraut, bedeutet heute schon wieder was ganz anderes. Also: Manches Wort bleibt, ändert seine Bedeutung aber erheblich. Anders gehören tatsächlich der Vergangenheit an, leben fort in Goethes Werken und Briefen. Knopern - knabbern, mundieren - ins Reine schreiben, Mummenschanz - Maskerade, trenteln - trödeln, oder versäumen - vernachlässigen. Martin Müller breitet seine „Lesefrüchte“ aus. Er erklärt nicht, woher das jeweilige Wort kommt, ob es hessischer oder thüringischer Herkunft ist. Es steht halt bei Goethe und hat seine Bedeutung im Kontext des Werkes. Die Quelle, aus der er es entnommen hat, ist immer penibel angegeben. Die „Fresse“ steht in Faust II, das „Fräulein“ in Faust I, der „Fotzenhut“ stammt aus „Hanswursts Hochzeit“, die „Deute“ (Tüte) aus Hermann und Dorothea, „abätzen“ (abfressen, abweiden) kommt aus dem Tagebuch. Es ist, wo immer man mit der Lektüre beginnt, fast immer anregend, stets vergnüglich. „Vergnügt sein“ galt Goethe noch als zufrieden (und nicht fröhlich), „zwecklos“ bedeutete seinerzeit ziellos. Es ist kein Buch zum schnellen Durchstreifen, es bietet Haltemomente, ruft zu Vergleichen, erregt zur Heiterkeit, besonders dann, wenn aus „Hanswursts Hochzeit“ zitiert wird. Da gibt es nicht nur den Lappsack und den Lapparsch, auch der Leckarsch ist da, der Lauszipfel und der Quirinus Schweinigel bel esprit. Für „gemütlich“ und für „herzlich“ hat Martin Müller besonders viele Belege ausgewählt, es dominiert jedoch das seltene, oft wohl auch das einmalige Wort. Hübsche Sachen genug. Auch Nachdenkliches. Was ein Vortod ist, kann sich jeder, der lebt, denken. Goethe: „Wir hatten freilich darauf nichts zu erwidern, denn ihm konnte die Betrachtung nicht tröstlich werden, daß der Krieg, als ein Vortod, alle Menschen gleich mache ...“ (Campagne in Frankreich). Amüsant auch die Abfolge mancher Einträge. Auf „Weltfrau“ folgt Wendehals, von Goethe am 14. September 1786 in Verona beobachtet: „... so drehten sie auf einmal, jenen Vögeln gleich, die man Wendehälse nennt, die Köpfe herum, dasjenige mit Augen zu schauen, was ich ihren Ohren anpries ...“

Was heute wie der Schnee von vorgestern erscheint, bei Goethe war eben alles schon da. So ist die Lektüre dieses Buches ein lustiger, ein vielfach anregend-vergnüglicher Wandel durch die sich immer verwandelnde Bedeutungslandschaft der Wörter.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 08+09/00 (c) Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

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