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Verstehen ohne Worte

Wissenschaftler der TU erarbeiten ein
„Berliner Lexikon der Alltagsgesten“

Nicht nur Verliebte kommen ohne Worte aus. Im Alltag nutzen wir - bewußt oder unbewußt - eine Vielzahl von Gesten zur Verständigung. Reiben wir Daumen und Zeigefinger aneinander, ist Geld im Spiel, das Tippen auf die Uhr am Handgelenk assoziiert Eile, anderen mit gespreizter Hand eine Nase drehen, verrät Schadenfreude, und den „Stinkefinger“ zeigen kann ein juristisches Nachspiel haben. Welche Rückschlüsse sich aus Gesten auf Kultur und Lebensweise einer Gesellschaft ziehen lassen, ist im weiten Sinn Thema eines Forschungsprojekts der Arbeitsstelle für Semiotik an der Technischen Universität Berlin. Die Ergebnisse werden in einem „Berliner Lexikon der Alltagsgesten“ zusammengefaßt.

Seit 1998 ist eine Wissenschaftlergruppe unter der Leitung von Prof. Roland Posner dabei, dieses Nachschlagewerk zu erarbeiten. Während die Gebärdensprache der Gehörlosen weitgehend erforscht und ein festes Vokabular vorhanden ist, um alles ausdrücken zu können, sind Alltagsgesten begrenzt. In Deutschland ist dieser Bereich zum großen Teil noch unerforscht, so Massimo Serenari, der mit Reinhard Krüger und Thomas Noll zu den Mitarbeitern der Forschungsgruppe gehört. Das hat sicher auch mit dem alten Vorurteil zu tun, Gebärden seien die Sprache der Unterschichten. Dabei ist hinlänglich bewiesen, wie gut sich gerade damit kommunizieren läßt.

Die Idee zu diesem Lexikon entstand als Folge eines anderen interdisziplinären Projekts. Mitte der 90er Jahre entwickelten Informatiker und Semiotiker einen Sensorhandschuh, der Gebärden erkennt und an ein Computersystem weiterleitet. Die vorhandene Materialfülle erwies sich als gute Grundlage für ein Lexikon, das es in dieser Form in Deutschland noch nicht gibt. Auf Videos haben die Wissenschaftler ohne jeden Kontext etwa 150 allgemein bekannte Gesten aufgezeichnet und sie dann in unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen, differenziert nach Alter, Geschlecht, Ost-/Westberliner und Ausländer, auf ihren Bekanntheitsgrad getestet. Zusätzlich wurden Fragebogen verteilt und in Gesprächen mit den Probanden Interpretationsvarianten untersucht.

Etwa 100 bis 120 Eintragungen, systematisiert nach Gestenfamilien, sind für das Lexikon konzipiert. Unter „Zeigegesten“ wird zum Beispiel ein Komplex dargestellt, was sich mit verschiedenen Körperteilen, mit Hand, Augen, Kinn, ausdrücken läßt. Querverweise führen zu Stichwörtern „Mit dem Daumen winken“, „Mit dem Arm den Weg öffnen“ oder „Auf das Handgelenk hinweisen“. Mehrmals mit der Rückhand auf das Handgelenk schlagen, steht für Unpünktlichkeit. Es kann aber ebenso Ärger über Warterei ausdrücken, auch Wichtigtuerei. Umgangssprachlich gemeint ist „Schau mal auf die Uhr“ oder „Diese Bummelanten!“.

Die jeweils in Bildern dargestellten Gebärden werden ausführlich beschrieben. Dazu gibt es eine Erklärung der Bedeutungs- und Gebrauchsvarianten und einen Exkurs in die Etymologie. Der Ursprung der Gebärde „Eine Nase drehen“ läßt sich zum Beispiel weit ins 5.Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung zurückverfolgen. Allerdings hat sich der Bedeutungswandel von der droh- oder schadenabwehrenden Gebärde zum Zeichen für Spott, Kritik oder Lächerlichmachen erst allmählich über die Jahrhunderte herausgebildet. In der römischen Antike bekannt war die Wendung „über jemanden die Nase rümpfen“. In der Ikonologie ist die Gebärde des Nasedrehens seit Rabelais' humorvoll-satirischem Buch über den Riesen „Pantagruel“ aus dem 16. Jahrhundert belegt. Karikaturen von Wilhelm Busch oder aus Heinrich Hoffmanns „Struwwelpeter“ von 1845 veranschaulichen, wie beliebt diese Geste ist, andere bloßzustellen. So bieten in dem Lexikon Karikaturen und Comics
zusätzliche Hintergrundinformationen. Überhaupt sind Gebärden ein beliebtes Ausdrucksmittel, um politische Ereignisse zu kommentieren. Zeitgenössische Abbildungen aus Tageszeitungen haben deshalb Aufnahme in das Kompendium gefunden.

Zur Struktur des Lexikons gehören graphische Darstellungen, aus denen ersichtlich ist, wie verbreitet die Gesten in der Bevölkerung sind. Dabei, so berichtet Massimo Serenari, seien erhebliche Unterschiede zwischen Ost- und Westberlinern sowie den Generationen zu beobachten. So zum Beispiel beim Telefonieren. Bestimmte Zeichen, wie eine Drehbewegung mit der Hand oder mit der Hand einen imaginären Hörer andeuten, sind in allen Altersgruppen noch bekannt, aber Jüngere, die Handy-Generation, nutzen diese Geste nicht mehr. Den Daumen mit der Hand anfeuchten und aufs Revers drücken, heißt in der Zeichensprache einen Orden erhalten. Im Ostteil der Stadt war dieses Zeichen bekannter. Jüngere Ostberliner stellten sich darunter auch „Bienchen bekommen“ vor. Ähnlich verhielt es sich mit der Bildfolge, in der sich die Testperson mit dem Daumen unter den Hemdkragen fährt. In einer Pankower Seniorenfreizeitstätte war der Wiedererkennungseffekt mit der Redewendung „Mir fehlen die 17,5 Gramm“ verbunden. Dagegen gab es in den Fragebögen keine entsprechenden Reaktionen. Erst in Gesprächen zeigte sich, daß diese Geste als eine Anspielung auf das verdeckte Parteiabzeichen verstanden wurde.

Die Bezeichnung „Berliner Lexikon der Alltagsgesten“ ist nicht ganz zutreffend, denn die meisten hier dargestellten Gebärden sind auch anderswo bekannt. Dennoch haben die Herausgeber den Titel bewußt gewählt. Zum einen bezieht sich die Untersuchung auf Berliner Leben, und zum anderen wollen sie damit auf die Stadt als Erscheinungsort aufmerksam machen. Neben einer wissenschaftlichen Ausgabe ist eine populärwissenschaftliche sowie eine CD und eine Internet-Version vorgesehen.

Gudrun Schmidt

Berliner LeseZeichen, Ausgabe 08+09/00 (c) Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

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