Wiedergelesen von Eberhard Fromm


Paul Heyse: Andrea Delfin
Berlin 1862

Die deutschsprachigen Literaturnobelpreisträger (3)

 

Es ist nun schon wieder zwanzig Jahre her, daß 1981 in der Bayerischen Staatsbibliothek München eine große Ausstellung zu Paul Heyse unter dem Motto „Münchner Dichterfürst im bürgerlichen Zeitalter“ veranstaltet wurde. Man hatte damals die Hoffnung, damit Impulse zu einer literaturhistorischen Auseinandersetzung mit Heyse zu geben. Doch nach wie vor scheint er einer der großen Vergessenen der deutschen Literatur zu sein.

Paul Heyse war Dichter und Romancier, Dramatiker und Novellist, Übersetzer und Förderer neuer Talente - und darüber hinaus ein produktiver Briefeschreiber. Mit ihm erhielt zum erstenmal ein Repräsentant der deutschen Literatur den Nobelpreis (1910), nachdem mit Theodor Mommsen und Rudolf Eucken eigentlich „fachfremde“ Persönlichkeiten aus dem Bereich der Geschichtswissenschaft bzw. der Philosophie geehrt worden waren.

In der Begründung hieß es, daß er die Auszeichnung erhalte „als Huldigungsbeweis für das vollendete und von idealer Auffassung geprägte Künstlertum, das er während einer langen und bedeutenden Wirksamkeit als Lyriker, Dramatiker, Romanschriftsteller und Dichter von weltberühmten Novellen an den Tag gelegt hat“. In der unmittelbaren und auch späteren Reaktion auf diese erste Auszeichnung eines deutschen Dichters wurde häufig betont, daß diese Ehrung verspätet erfolgt sei, daß Heyse bereits vergessen gewesen sei, als er den Nobelpreis überreicht bekam. In Schweden sah man das anders. Dort betonte man bei der Verleihung polemisch, die „parteiische Abneigung des Naturalismus hat es wohl bewirkt, daß man ihn von seinem Vaterland aus nicht schon früher für den Weltpreis vorgeschlagen hat“.

Tatsächlich hatte es seit den 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts mit dem Aufkommen des Naturalismus in Deutschland eine unerhört scharfe Polemik der Vertreter des Naturalismus mit Heyse gegeben. Sie sahen in ihm den Repräsentanten einer alten, vergangenen Welt und diffamierten ihn als „Scheinkünstler“. 1889 konnte man in der Münchner Zeitschrift „Die Gesellschaft“ lesen: „Paul Heyse ist kein einzelner Mensch - er ist ein Symbol, die plastische Verkörperung der ganzen sittlichen Verkommenheit der deutschen Bourgeoisie, welcher die Gemeinheit, die Lüsternheit, die Frechheit, die Schamlosigkeit als das Ideal der Schönheit gilt. Heyse lesen, heißt ein Mensch ohne Geschmack sein - Heyse bewundern, heißt ein Lump sein.“

Ist es nach einem solchen Verdammungsurteil verwunderlich, daß Heyse ins Abseits der literarischen Öffentlichkeit geriet? Thomas Mann sprach angesichts der hohen Produktivität des Schriftstellers - immerhin an die 150 Novellen, über 60 Theaterstücke, acht Romane, unzählige Gedichte und Epigramme sowie viele Übersetzungen - von einem „fast unanständig fruchtbaren Epigonen“ und prägte damit eine weitere Ab-Wertung. Macht es da überhaupt noch Sinn, irgend etwas von Paul Heyse zu lesen, ihn der Vergessenheit zu entreißen? Auf die Gefahr hin, als ein Mensch ohne Geschmack oder gar als Lump zu gelten, möchte ich um ein wenig Interesse an diesem Schriftsteller werben.

Paul Heyse wurde am 15. März 1830 in Berlin in einer intellektuell und musisch sehr anspruchsvollen Familie geboren. Der Vater Karl Wilhelm Ludwig Heyse (1797-1855), Professor der klassischen Philologie und allgemeinen Sprachwissenschaft, hatte als junger Mann als Erzieher im Hause Mendelssohn Bartholdys gearbeitet. Hier lernte er seine spätere Frau Julie Saaling (1788-1863) kennen, eine Tochter des Hofjuweliers und Bankiers Salomon Jacob Salomon (1735-1788) und verwandt mit der Familie Mendelssohn Bartholdy.

Paul unternahm bereits im Gymnasium seine ersten dichterischen Versuche. Sie fanden die Aufmerksamkeit des Dichters Emanuel Geibel (1815-1884), der ihn seither förderte. Im Hause des Kunsthistorikers Franz Kugler lernte er nicht nur Jacob Burckhardt und Adolph Menzel kennen, hier begegnete er auch seiner ersten Frau, der Tochter des Hauses Margaretha Kugler (1834-1862). Er wurde mit Theodor Fontane und Theodor Storm bekannt. Vor allem mit letzterem verband ihn eine lebenslange Brieffreundschaft.

Nach dem Studium in Berlin und Bonn promovierte er 1852 mit einer Arbeit über die Poesie der Troubadours. Mit einem Stipendium wurde ihm ein Italienaufenthalt ermöglicht; in dieser Zeit entstand seine große Liebe zu diesem Land, die sich in vielen seiner späteren Arbeiten widerspiegeln sollte.

1854 erfuhr sein Leben eine entscheidende Wendung. Durch Geibels Vermittlung erhielt er eine Einladung des bayrischen Königs Maximilian II. nach München. Der König verfolgte das Ziel, nach dem Muster Weimars eine Art „Musenhof“ zu etablieren und damit ein kulturelles Gegengewicht zu Berlin und Wien zu schaffen. So entstand der „Münchner Dichterkreis“, in dem Heyse und Geibel den Ton angaben. Durch ein Jahresgehalt von anfangs 1 000, später 1 500 Gulden war seine Existenz solide gesichert. Erst 1868, als es zu Differenzen mit dem Münchner Hof kam, verzichtete Heyse auf diese Unterstützung.

Heyse konnte sich ganz seiner schriftstellerischen Arbeit widmen - im Unterschied zu vielen seiner Kollegen, die einem Broterwerb nachgehen mußten wie Theodor Storm oder Gottfried Keller. Jahr für Jahr erschienen seine Novellen, Theaterstücke, Gedichte und später dann auch Romane. Viele von ihnen spielten in Italien. Und immer war spürbar, daß hier einer einem Schönheitsideal anhing, das nicht zuließ, Häßliches in die Kunst hineinzubringen. Die Politik war nicht seine Welt. Ihn interessierte der einzelne Mensch in seiner spezifischen Individua-lität. Dabei bewegte er sich in Grenzen, die Franz Mehring recht treffend - und wohl auch abgewogener als Heyses naturalistische Gegner - charakterisierte, als er 1894 schrieb,Heyse gehöre „keineswegs zu denjenigen Poeten der Bourgeoisie, die ihren hauptsächlichen Beruf darin sehen, den Mastbürger in einen sanften Nachmittagsschlummer zu lullen. Dafür ist er zu klug und schließlich auch zu ehrlich. Er meint es ernst mit seiner Kunst, so gut er sie versteht. Er ist nur seiner Abkunft und seiner ganzen Vergangenheit nach so völlig eingesponnen in die Vorstellungen der herrschenden Klassen, daß ihm der Gedanke völlig fernliegen muß, sie zu durchbrechen. Deshalb treibt ihn sein schöpferisches Vermögen als Dichter nicht aus ihnen heraus, sondern immer tiefer in sie hinein.“

Für Heyse war die Novelle jene Darstellungsform, die ihm besonders lag und wo er auch Unvergängliches geschaffen hat. Als er gemeinsam mit dem Dichter Hermann Kurz (1813-1873) eine umfängliche Sammlung deutscher und ausländischer Novellen herausgab, entwarf er in der Einleitung seine theoretische Ansicht über die Novelle. Sie ist als „Falkentheorie“ in die Literaturgeschichte eingegangen, da Heyse sie am Beispiel jener Boccaccio-Novelle erläutert, in der ein verliebter, aber verarmter Jüngling seiner Angebeteten seinen einzigen Besitz, einen Falken, als Essen serviert. Dieses Besondere, Spezifische müsse in jeder Novelle zu finden sein, meint Heyse: „Von dem einfachen Bericht eines merkwürdigen Ereignisses oder einer sinnreich erfundenen abenteuerlichen Geschichte hat sich die Novelle nach und nach zu einer Form entwickelt, in welcher gerade die tiefsten und wichtigsten sittlichen Fragen zur Sprache kommen, weil in dieser bescheidenen dichterischen Gattung auch der Ausnahmefall, das höchst individuelle und allerpersönlichste Recht im Kampf der Pflichten, seine Geltung findet.“ Deutlich unterschied er die Novelle vom Roman: „Wenn der Roman ein Kultur- und Gesellschaftsbild im Großen, ein Weltbild im Kleinen entfaltet, bei dem es auf ein gruppenweises Ineinandergreifen oder ein konzentrisches Sichumschlingen verschiedener Lebenskreise recht eigentlich abgesehen ist, so hat die Novelle in einem e i n z i g e n Kreise einen e i n z e l n e n Konflikt, eine sittliche oder Schicksals-Idee oder ein entschieden abgegrenztes Charakterbild darzustellen und die Beziehungen der darin handelnden Menschen zu dem großen Ganzen des Weltlebens nur in andeutender Abbreviatur durchschimmern zu lassen. Die G e s c h i c h t e, nicht die Zustände, das E r e i g n i s, nicht die sich in ihm spiegelnde Weltanschauung, sind hier die Hauptsache; denn selbst der tiefste ideelle Gehalt des einzelnen Falles wird wegen seiner Einseitigkeit und Abgetrenntheit - der Isolierung des Experiments, wie die Naturforscher sagen - nur einen relativen Wert behalten ...“

Paul Heyses Werk ist kaum überschaubar. Seine zwischen 1872 und 1914 erschienenen Gesammelten Werke umfaßten bereits 38 Bände. Seine Novellen bilden sicher das Kernstück seines Schaffens. Mit seinen Theaterstücken war er weniger erfolgreich, obwohl die historischen Schauspiele „Hans Lange“ (1866) und „Colberg“ (1868) häufig gespielt wurden; das Stück „Maria von Magdala“ erhielt in Preußen Aufführungsverbot. Die Romane Heyses handeln meist in der Gegenwart. Kinder der Welt erschien sogar als Fortsetzungsroman in der Berliner Spenerschen Zeitung. Und von seinem Roman Merlin (1892) sagt Heyse, daß er mehr als irgend ein anderes seiner Werke seine sittliche, ästhetische und religiöse Weltanschauung enthält. „Wohl habe ich von früh an die Welt zu begreifen gesucht und bin durch alle philosophischen Schulen gelaufen“, heißt es dazu in einem Brief vom 12. Januar 1903, „zuletzt aber bei einem resignierten Agnosticismus angelangt.“

Heyse empfing in seinem Leben hohe Ehrungen. Er wurde mit dem Schillerpreis ausgezeichnet, Ehrenbürger der Städte München und Kolberg und durch den bayrischen Prinzregenten Luitpold geadelt.

Seine internationale Würdigung fand 1910 mit dem Nobelpreis für Literatur ihren Höhepunkt. Am 2. April 1914 starb Paul Heyse in München. Sein langjähriger Freund und Briefpartner Gottfried Keller schrieb vorausschauend über das Schicksal Heyses in einem Brief an Theodor Storm: „Diese schöne, spezifisch künstlerische Persönlichkeit gehört einmal zu den Erscheinungen, welche der schnöden Routine die größte Unbequemlichkeit verursachen und von denen sich die weihelosen Konversationsschriftsteller und die Unkräuter aller Art abwenden wie die Hunde von einem Glas Wein. An den ersten Wortreihen, welche ein solches Talent hören läßt, erkennen sie die ihnen fremde Mundart des Schönen, den Wohlklang der wirklichen Poesie, und sofort wird nach einem Schlag- und Scheltwort ausgeschaut, mit welchem der Verhaßte zu verpönen, zu insultieren gesucht wird. Da hört man denn geringfügige Tadelwörter wie Formgewandtheit, glatte Verse, Gelecktheit.“

Vielleicht drückt eines der vielen Epigramme, die Heyse über die Kunst verfaßte, seine eigene Position und Leistung am knappsten aus:

„Brauche nur immer deine Kraft,
Ob sie auch nichts vom Höchsten schafft.
Zum mindsten ist Wärme frei geworden,
Und das tut not in unserm Norden.“

* * *

Die Novelle Andrea Delfin entstand 1859 und wurde 1862 veröffentlicht. Sie gehört in den Kreis der „Italienischen Novellen“, in denen die enge Beziehung des Autors zu Italien durch genaue Gestaltung und treffende Charakteristik von „Land und Leuten“ zum Ausdruck kommt.

Der Inhalt ist - ganz nach dem Vorbild seiner „Falkentheorie“ - in wenigen Sätzen erzählt: Der Adlige Candiano aus dem Friaul, dessen ganze Familie durch die brutale Herrschaft der Oberen in Venedig ausgerottet wurde und den man allgemein für tot hält, kommt unter falschem Namen - Andrea Delfin - nach Venedig, um Rache zu nehmen. Er tötet ein Mitglied des Dreier-Tribunals der Inquisition, verletzt den zweiten lebensgefährlich und ersticht bei einem dritten Attentat durch einen schrecklichen Irrtum schließlich seinen einzigen Freund, worauf er den Freitod wählt.

Das historische Umfeld der Novelle ist mit dem Jahr 1742 recht genau bestimmt. In der Stadt herrscht unter Führung des Dogen der Rat der Zehn, vor allem aber die Staatsinquisition, an deren Spitze ein Dreier-Tribunal steht. „Solange die Republik eine Aufgabe hatte unter den Völkern Europas, solange war der Druck dieser stehenden Diktatur im Innern durch die Erfolge nach außen aufgewogen“, läßt Heyse eine seiner Gestalten resümieren. „Niemals wäre Venedig ohne dieses Zusammenfassen all seiner Kräfte in der Hand unerbittlicher Tyrannen zu der Blüte politischer Macht und unermeßlichen Reichtums gediehen ...“ Nun aber existiere nur noch nackte Tyrannei ohne Ziele: „Eine Diktatur im Frieden, mag sie von einem oder dreien ausgeübt werden, ist immer eine Lebensgefahr für jeden großen oder kleinen Staat“, weil sie nach innen zu wüten beginne.

Die drückende Atmosphäre der Stadt, die Praktiken eines weitverzweigten Spitzelsystems, die Angst als Lebensgefühl - das alles wird mit knappen Strichen gezeichnet. „Halb Venedig war dafür besoldet, daß es die andere Hälfte überwachte.“ Und: „Was drei Venezianer wissen, weiß der Rat der Zehn.“

Andrea Delfin läßt sich als Spitzel anwerben, um so noch besser seine Rachepläne verwirklichen zu können. Er wird auf die österreichische Botschaft angesetzt, wo er einen Bekannten, den Baron Rosenberg, wiedertrifft, der bald sein einziger Freund wird. Als er erfährt, daß man diesen umbringen will, setzt er alles daran, ihn zu bewegen, Venedig zu verlassen. Doch die Leidenschaft zu einer Venezianerin, der Gräfin Amidei, die heimlich für die Inquisition arbeitet, hält ihn fest. Erst als seine Mutter seine Rückkehr fordert, kann Delfin ihn überreden, die Stadt zu verlassen. Und an diesem letzten Abend, als er als alter Mann verkleidet zu seiner Angebeteten schleicht, wird er von Delfin erstochen, der ihn für einen der drei Staatsinquisitoren hält. „Ich habe den Richter gespielt und bin zum Mörder geworden“, muß er sich eingestehen, während er doch als Retter für ein ganzes in Knechtschaft versunkenes Volk auftreten wollte. Deshalb macht er seinem Leben ein Ende.

Wie in vielen Novellen Heyses sind auch hier die handelnden Frauen besonders eindrucksvoll charakterisiert, ja, man kann feststellen, daß ihre Persönlichkeiten besser gezeichnet sind als die des Haupthelden Andrea Delfin und der anderen männlichen Gestalten. Da sind seine Wirtin Giovanna Danieli und ihre reizende Tochter Marietta, die auch schon unter den Bleidächern, dem berüchtigten Gefängnis Venedigs, eingekerkert waren. Die alte Giovanna hofft immer noch auf die Rückkehr ihres Mannes und wähnt in ihm den unbekannten Attentäter. Mit ihren einprägsamen Sprüchen vermittelt sie ihre Lebensweisheit: „Denken verkürzt das Leben, aber Kummer schließt das Herz auf“ oder „Wer nicht zur Nacht ißt, hungert im Traum“. Marietta verliebt sich in den geheimnisvollen Delfin und erkennt in ihm den Rächer. Daß sie durch diese Liebe ihren Frohsinn verliert und nicht mehr singt und herumtollt, macht frühzeitig auf das tragische Ende des Konflikts aufmerksam. Selbst die kokette Zofe Smeraldina der für die Inquisition arbeitenden Gräfin, durch die Delfin Zugang zum Haus der Gräfin er hält, bekommt ein unverwechselbares Gesicht.

Das Außergewöhnliche dieser Novelle, das „Falkenmotiv“, ist hier, daß der Dolch, der die Inschrift „Tod allen Staatsinquisitoren“ trägt, ungewollt die Arbeit der Inquisition erledigt, nämlich die Tötung des österreichischen Barons. Damit verwandelt sich die Persönlichkeit des Helden; sein ehrenvolles Streben verkehrt sich in eine niedrige Tat.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 05/00 (c) Edition Luisenstadt, 2000
www.luise-berlin.de

zurück zur vorherigen Seite