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Vater des „Hasen Augustin“ und der „Anne Kaffeekanne“ geehrt

Im Gespräch mit Fredrik Vahle

 

Fredrik Vahle, Jahrgang 1942, ist Germanist, Liedermacher und Poet. Hauptsächlich schreibt er Kinderlieder, und begonnen hat er damit in den Jahren nach 1968. Für Kinder im Westteil Deutschlands waren in jener Zeit Themen wie Arbeit, Schule, Erziehung, Sexualität, Leben ausländischer Mitbürger tabu, und es war mutig und wichtig, diese aufzugreifen und in Liedern darzustellen. Immer hat Vahle auch Nonsens-Lieder und sprachspielerische Verse geschrieben oder in zahlreichen Büchern kindliches Leben unverwechselbar dargestellt. Auch theoretisch hat er sich mit dem Liedgut und dem Liedsingen der Kinder beschäftigt, was in seiner Habilitationsschrift nachzulesen ist. Vahle verkörpert das, was man das „gute Gewissen“ des modernen deutschsprachigen Kinderliedes nennen könnte. Er liest als Privatdozent an der Uni Gießen über Sprache, Bewegung und Musik und was Erwachsene vom kindlichen Singen und Spielen lernen können. Oft ist Vahle auf Tour und singt aus seiner Erfolgsproduktion „Anne Kaffekanne“ oder animiert mit „Hupp Tsching Pau!“, seinen einzigartigen Bewegungsliedern, Kinder zum Tanzen, Singen und Bewegen nach Musik. Der Liedermacher Vahle hat 22 Schallplatten und CDs zwischen 1973 und 1999 veröffentlicht. Für sein fast drei Jahrzehnte währendes Gesamtschaffen wurde Fredrik Vahle jetzt mit dem Verdienstorden der Bundesrepublik geehrt.

Herr Professor Vahle, mit den Kindern, besonders den kleinen Kindern zu singen, ist doch zuerst Sache der Mütter, später sind es Kindergärtnerinnen und Erzieherinnen in den unteren Klassen. Woher kommt der Beruf des Kinderliedermachers?

Bei mir hat Kinderliedersingen und Kinderliedermachen sehr viel mit Erzählen zu tun. Das heißt, bei meinen frühesten Kinderliedern gab es noch eine Verbindung zwischen Geschichte und Lied. Ich habe den Kindern in Liedern Geschichten erzählt. Das Lied zeichnet sich durch Melodie und Rhythmus aus, die Geschichte ist dadurch gekennzeichnet, daß es eine bestimmte Entwicklungen gibt, spannende Momente, und daß sie ganz spezifische Wirkungselemente hat. Und ich glaube, daß der Kinderliedermacher in diesem Sinne Erzählen und Singen miteinander verbindet, und er knüpft dadurch an die mütterlich-fraulichen Traditionen in der Begegnung mit dem Kind an. Er versucht also, den engeren häuslichen Bereich zu verlassen, und geht mit seinen Geschichten, mit seinen Lied-Geschichten zusammen mit dem Kind in die weite Welt. Er zeigt ihm also den größeren Umkreis, versucht den Blick des Kindes auf weiterführende Dinge zu lenken.

Obwohl Sie sozusagen an der Basis der Gesellschaft arbeiten und viele Kinder erreichen, bringt die kulturelle Öffentlichkeit dem Komplex Kind-Musik-Lied nur wenig Aufmerksamkeit entgegen. In der Musikenzyklopädie ist der Begriff „Kinderlied“ ausgespart, allerdings werden heute viele Tonträger für Kinder verkauft. Worauf gründet sich die Geringschätzung oder gar Ignoranz gegenüber der literarisch-musikalischen Gattung Kinderlied?

Ich glaube, es gibt nicht nur eine allgemeine, es gibt auch eine kulturelle Ignoranz. Es gibt aber auch immer wieder Schriftsteller und Komponisten, die diese Ignoranzmauer durchbrechen. Enzensberger oder Rühmkorf zum Beispiel. Der Enzensberger hat ja mal gesagt, daß der Kinderreim und das Kinderlied zur prima poesis eines jeden Menschenleben dazugehören. Und ich denke, diese Aussage verpflichtet eigentlich die Künstler, sich mit diesem ganz wesentlichen Bereich zu befassen. Aber leider ist es ja so, daß auf der literarischen Prestigeskala das Kinderlied ganz hinten steht. Da gilt es immer noch als eine Art pädagogische Kunsthandwerkelei. Aber ich denke, es gibt inzwischen sehr, sehr überzeugende Beispiele, und in diesem Kontext sehe ich auch meine Arbeit, die zeigt, daß das Kinderlied eben zu mehr fähig ist.

Ihre erste Kinderplatte „Die Rübe“ von 1973 wird bis heute verkauft. Sie enthält Lieder, die von der Solidarität unter Kindern und Erwachsenen erzählen, thematisiert sozialkritische Fragen, und es sind die schon zum „Klassiker“ gewordenen Lieder wie „Der Hase Augustin“ oder „Der Cowboy Jim aus Texas“ enthalten. Welche Resonanz hatte damals diese Veröffentlichung von und mit Christiane & Fredrik? Welchen Stellenwert hat diese Produktion heute?

Damals war es Provokation, heute ist es Herausforderung. Ich sehe es nicht nur als eine thematische Herausforderung, sondern ich sehe es als Herausforderung für den gesamten Liedvermittlungsprozeß. Das heißt, in den frühen sozialkritischen Liedern waren wir, ähnlich wie das GRIPS-Theater, auf Themen fixiert, aber der eigentliche Vermittlungsprozeß, der kam noch immer etwas von oben herab, beziehungsweise der spiegelte eine Vortragssituation wider. Heute kommt es uns viel mehr darauf an, die Kinder mitzubeteiligen, ihnen an praktischen Beispielen zu zeigen, was Mitbestimmung heißt, sie dann auch innerhalb des Liedersingens und des Geschichtenerzählens zur Mitbestimmung zu befähigen. Es ist also so etwas wie eine kulturell-demokratische Grundausbildung, was auf sehr spielerische Weise, aber auch durch neue Spiel- und Bewegungslieder geleistet werden kann.

Der Werbeprospekt des PATMOS-Verlages, bei dem die meisten Ihrer Produktionen liegen, bezeichnet Sie als „Klassiker und Revolutionär in deutschen Kinderzimmern“. Sehen Sie sich auch so? Als „Klassiker“, weil Sie sehr lange schon auf diesem Feld arbeiten und die pädagogisch determinierte Gattung Kinderlied mit relativ einfachen Mitteln erneuert haben? Und: Bezieht sich „Revolutionär“ auf die angesprochenen Lied-Thematisierungen in den frühen 70er Jahren?

Also, das alles bezieht sich, glaube ich, auf einige thematische Neuerungen, die auch mit meinen Kinderliedern eingeführt wurden. Es gibt also Sozialkritik im Kinderlied, bestimmte Einsichten und so etwas wie gesellschaftliche Aufklärung im Kinderlied, was allerdings auch in der Nachfolge der 68er Zeit überstrapaziert worden ist. Na, ja, Revolutionär und Klassiker sind in gewisser Weise auch Schlagworte, und Schlagworte können Klischees erzeugen. Ich fühle mich eher als Erneuerer, auch in der Hinsicht, daß es mir großen Spaß macht, mit bestimmten traditionellen Dingen umzugehen und immer wieder zu schauen, wie singen und wie rhythmisieren andere Völker im Bereich des Kinderliedes, aber auch in der Erwachsenenmusik.

Bruno Bettelheim veröffentlichte 1975 das Erfolgsbuch „Kinder brauchen Märchen“. Die alte und bekannte Weisheit wurde psychoanalytisch neu gewertet und von einem breiten Publikum angenommen. Wollten Sie eine ähnliche Erneuerung für das traditionelle Kinderlied?

Nein. Das Kinderlied hat mir Spaß gemacht, und das Kinderlied hat mich auch als Erwachsener angesprochen. Vor allem habe ich gespürt, daß bei meiner Arbeit mit dem Kinderlied auch mein inneres Kind lebendig wurde. Das heißt, ich habe meine Kinderlieder nie nur für Kinder geschrieben, sondern auch für Erwachsene. Und ich denke, daß die Lieder, die ich schreibe, so etwas wie ein Lebendigkeitsmedium für Menschen aus ganz unterschiedlichen Altersstufen sind. Daß sie immer auch verbunden sind mit Kindheitserinnerungen, aber auch mit der Entdeckung von Neugier, von Begeisterung, von Staunen, etwas, was man sonst nur den Kindern zuspricht.

Sie waren in den 80er Jahren u. a. in Mexiko, Kuba und Nicaragua unterwegs. Für das von Somoza befreite Nicaragua sammelten Sie einst Spendengelder und übergaben diese an den Pastor und Kulturminister Ernesto Cardenal. In Büchern, z. B. „Manuel“ und „Ich erzähle von Pedro“ haben Sie über das entbehrungsreiche Leben lateinamerikanischer Kinder erzählt. Wie wichtig ist Ihnen diese Thematik heute?

Ja, ich habe damals mit meinen Liedern bestimmte Dritte-Welt Projekte unterstützt. Es ist ja immer ein gegenseitiges Geben und Nehmen. Wir haben z. B. Spenden nach Nicaragua gebracht, haben unsere Lieder gespielt und haben von den Nicaraguanern viele Impulse, Anregungen und Begeisterung bekommen. Ich werde in diesem Jahr Paraguay besuchen, und auch da wird es ähnlich sein. Davon erzähle ich dann den Menschen hier.

Sie singen vor Schulklassen, Kindergartenkindern, aber auch in großen Sälen. Sie können Kinder begeistern. Wo sind für Sie, Herr Vahle, die Grenzen der Begeisterungsfähigkeit durch Liedermacher?

Ich denke, es gibt immer eine sehr starke Konkurrenz zwischen den Liedermacher-Liedern und dem, was aus dem kommerziellen Sektor kommt. Natürlich sind wir als Liedermacher auch auf den Vertrieb unserer Kassetten und CDs angewiesen. Aber es ist zum Beispiel so, daß bestimmte Bereiche der Popmusik sich auch immer mehr an Kinder wenden, und dadurch wird die Popularität unserer Lieder nicht gerade gefördert. Trotzdem ist es doch erstaunlich, daß durch den kommerziellen Druck verschiedene Lieder von mir, ohne daß sie groß im Fernsehen herausgekommen sind, so etwas wie „Volkslieder“ geworden sind.

Sie singen Lieder der „Klassiker“ Joachim Ringelnatz, Christian Morgenstern, Bertolt Brecht und Garcia Lorca, auch Lieder in griechischer, italienischer, spanischer, russischer Sprache. Dazu kommen Ihre vielen eigenen Lieder. Womit werden Sie von den Kindern zuerst identifiziert? Haben Sie Ihre heimlichen Favoriten unter Ihren Liedern?

Ja, natürlich durch meine bekanntesten Lieder: „Hase Augustin“, „Cowboy Jim“, „Anne Kaffekanne“, „Katzentatzentanz“. Heimliche Favoriten? Das wechselt. Mein Favorit zur Zeit ist „Das Nilpferd im Obudubu-Land“, das ist ein afrikanisch inspiriertes Lied, das wird wohl auch auf der nächsten CD erscheinen.

Was sind die interessantesten und schönsten Reaktionen, wenn Sie für die Kinder und mit ihnen singen?

Ja, das, was die Kinder beim Spielen und Singen selbst erfinden. Und der Spaß und die Begeisterung, mit der sie bei ganz einfachen Sachen dabei sind.

Heute wird oft das „Manifest“ der schwedischen Frauenrechtlerin und Schriftstellerin Ellen Key „Das Jahrhundert des Kindes“, damit war das 20. Jahrhundert gemeint, zitiert. Die zurückliegenden 100 Jahre werden durchaus häufig so gewertet. Bei allen reformpädagogischen Verdiensten geht Key aber auch davon aus, daß vom Kind alles Heil kommen könne. Sagen Sie bitte, Herr Vahle, was bedeutet Ihnen zeitgemäßes Kindverständnis?

Also, ich glaube nicht, daß alles Heil vom Kind kommt. Aber ich glaube, daß es im Kind bestimmte Fähigkeiten gibt und eine bestimmte Art, die Welt ganzheitlich zu betrachten, von der wir Erwachsenen uns immer wieder ’ne Scheibe abschneiden können. Aber das Kind ist auch etwas, was sich immer wieder weiterentwickelt und was gerade auf den Austausch mit uns Erwachsenen angewiesen ist. Das heißt, wir können natürlich von den Kindern viel lernen, aber Kinder sind auch auf uns angewiesen, damit sie sich entwickeln können. Und ich denke, wenn wir wirklich von den guten Fähigkeiten der Kinder einiges lernen, dann kann es uns als Erwachsene auch nicht schlecht gehen.

Nie hat es so viele singende Akteure vor den Kindern gegeben. Was hat sich in der Szene geändert im Vergleich zu jener Zeit, als das Sängerpaar Christiane & Fredrik an die Öffentlichkeit ging?

Ich glaube, es hat sich einmal thematisch sehr viel geändert. Es sind sehr viele neue Themen ins Kinderlied eingegangen, und es hat sich die Vielfalt der Vermittlungsprozesse verändert. Die Kindermusikkultur ist wirklich nicht mehr das, was sie vor 20 Jahren war, sondern es ist eine ganz eigene Szene geworden, auch mit ihren heimlichen Stars und mit ihren immer neuen Experimenten und ihren Versuchen, Kinder und Erwachsene anzusprechen oder auch die Probleme von Mädchen in Kinderlieder zu bringen. Aber auch in zunehmendem Maße den Jungen eine emotionale Identifikationsmöglichkeit im Lied zu geben, gerade da hapert’s im Moment noch ziemlich.

Beobachten Sie, daß Sängerkollegen, wenn sie Erwachsene nicht mehr erreichen, sich dann an Kinder wenden? Wenn es so sein sollte, wie bewerten Sie das?

Ich finde, das kann ein normaler Prozeß sein, daß man sich einem anderen Publikum zuwendet. Aber es kommt immer darauf an, in welcher Qualität das geschieht, spreche ich dieses neue Publikum an, bin ich da auf neue Ideen, neue Gedanken, neue Vermittlungsformen gekommen oder nicht.

Mit sieben Jahren war Cornelia Froebess ein deutscher Kinderstar mit dem Erfolgsschlager „Pack die Badehose ein“. Das war 1951. Etwa Mitte der 60er Jahren eroberte das Kind Heintje Simons die Herzen vieler Menschen in Deutschland. Sind Sie auf andere Weise ein Kinderstar?

Also mit Heintje oder Conny Froebess hat mich bisher zum Glück noch niemand verglichen. Ich denke mir, daß ich in bestimmten Kinderkreisen sehr bekannt bin und daß mich verschiedene Kinder auch für einen Star halten. Aber ich hoffe, daß ich die guten Seiten eines Stars habe, aber keine Starallüren.

Anläßlich des Hamburger Kinderliedkongresses (1998) erklärten Sie, daß eine Kinderkultur alter Zeit endgültig vorüber sei und jetzt Vernetzungen und Zusammenarbeit auf diesem Gebiet angebracht seien. Sie entwickelten den KiZuKo - Kinderzukunftskomplex -, in dem „Bewegung“, „Natur/Mitwelt“, „Gesunde Ernährung“, „Soziales Handeln“, „Ethik/Religiosität“ und „Interkulturelles Lernen“ untrennbar zusammengehören. Mit anderen Worten: Ganzheitliches Leben muß bei und mit den Kindern beginnen. Was ist aktuell dazu zu sagen?

Na ja, ich sitze zur Zeit an einem Theaterstück, das heißt „Der Traum der Tiere“, das stellt so einen Verbund dar. Und meine neuen Lieder gehen in diese Richtung. Ich glaube, daß das digitale Kommunikationszeitalter, das, wenn man verschiedenen Leuten glauben darf, längst angebrochen ist, natürlich auch seine Spuren im Kinderlied hinterläßt und diese Gattung auch verwandeln wird. Auf der anderen Seite wird es immer die traditionelle Situation geben, daß für Kinder im ganz natürlichen Umfeld gesungen wird, daß eben die Muttersprache noch immer von der Mutter erlernt wird und nicht vom Computer und daß das erste gesungene Lied und der erste gesprochene Vers auch von den Eltern stammt oder den Großeltern oder von einem Kinderliedermacher, der zufällig da ist.

Das Gespräch führte Thomas Freitag


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 05/00 (c) Edition Luisenstadt, 2000
www.luise-berlin.de

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