Eine Rezension von Erik Lehnert


Differenz statt Instrumentalisierung

Moshe Zuckermann: Gedenken und Kulturindustrie
Ein Essay zur neuen deutschen Normalität.

Philo Verlagsgesellschaft, Berlin 1999, 127 S.

 

Man hat in Deutschland bislang wenig ausländische Stimmen zur sogenannten „Walser-Debatte“ gehört. Moshe Zuckermann, Professor der Sozialwissenschaften in Tel Aviv, greift diese und andere weniger bedeutende Auseinandersetzungen in seinem neuen Buch unter dem Aspekt der veränderten Wahrnehmung der Vergangenheit in der vermeintlich neuen „Berliner“ Bundesrepublik auf. Damit knüpft er thematisch an seine Untersuchung der Holocaust-Erinnerung in den politischen Kulturen Deutschlands und Israels an.1 Seine Arbeiten zur Vergangenheitsbewältigung und israelischen Außenpolitik zeichnen sich durch hohen Realismus und kritische Reflexion auch gegenüber dem in Israel institutionalisierten Gedenken des Holocaust aus. Die Gebote friedensschaffender Verständigung und gerechten Ausgleichs schließen nach der Wiedererrichtung eines Staates Israel ja auch diesen selbst ein. So kann man eben auch Kritiker eines orthodoxen Zionismus sein, ohne Antisemit zu sein.

Das Buch entstand bei einem Aufenthalt Zuckermanns am Wissenschaftskolleg zu Berlin, nachdem sich die „Walser-Debatte“ im Dezember 1998 ausgeweitet hatte, und wurde im April 1999 abgeschlossen. Zuckermann will darin die „sich seit längerer Zeit anbahnende Wende im Umgang einer bestimmten deutschen Öffentlichkeit mit der Vergangenheit“ ideologiekritisch erörtern. Dazu zieht Zuckermann Walsers Friedenspreisrede (Oktober 1998), Wehlers Vortrag im Wissenschaftskolleg zu Berlin (Dezember 1998) und Enzensbergers Rede zur Verleihung des Heine-Preises (Dezember 1998) beispielhaft heran und befaßt sich mit diesen ausführlich jeweils in den ersten drei Kapiteln des Bandes.2 Die Kapitelüberschriften geben die Diskrepanz zwischen dem gleichsam objektiven Problem und dem, was die Referenten Zuckermanns Meinung nach daraus machen, wieder. Bei Walser heißt es „Von Erinnerungsnot und Ideologie“, bei Wehler „Von Lernprozessen und Apologie“ und bei Enzensberger schließlich „Von Gutmütigkeit und Koketterie“. Das vierte Kapitel „Gedenken, Kunst und Kulturindustrie“ ergänzt die vorhergehenden um einige eher theoretische Überlegungen des Autors zur Darstellbarkeit des Holocaust (mit Bezug auf die Berliner Mahnmaldebatte) und über den Widerspruch, den „adäquate Trauerarbeit und etablierte Trauerpolitik“ bilden. Die Zusammenfassung des vorher ausgebreiteten Materials erfolgt im letzten Kapitel unter der rhetorischen Frage „Deutscher Zeitgeist?“. Damit stellt Zuckermann einen direkten Bezug zu seiner Ausgangsthese her, in der er explizit behauptet, „daß es sich jedoch zumindest um eine Zeitenwende im ,linken‘ bzw. linksliberalen Milieu (wenn man will: im traditionellen Diskurs der kritischen Intelligenz der alten Bundesrepublik) im nun mehr vereinten Deutschland handeln mag“. Als symbolisch für die Wende sieht Zuckermann den Umzug des Deutschen Bundestages und der Regierung nach Berlin und damit die Überwindung der deutschen Spaltung als Folge des verlorenen Krieges. (Über die Folgen dieser Zeitenwende will Zuckermann nicht spekulieren.)

Im vorliegenden Band, wie auch schon in der o. g. Arbeit Zweierlei Holocaust, geht Zuckermann methodisch vom Besonderen zum Allgemeinen vor, d. h. er sucht sich Äußerungen von Zeitgenossen aus, die seiner Meinung nach beispielhaft für eine bestimmte Tendenz im öffentlichen Diskurs stehen, stellt diese sehr ausführlich und gerecht dar und analysiert anschließend diese Positionen im Hinblick auf gesamtgesellschaftliche Tendenzen. Dabei legt Zuckermann großen Wert auf die öffentliche Meinung (er will ja einen Wandel im Zeitgeist verdeutlichen) und stützt seine Beweisführung vor allem mit Leserbriefen und Kommentaren aus deutschen Zeitungen und Zeitschriften.

Es ist immer gut, wenn sich ein Dialog entwickelt, wirkliche Fragen gestellt und Antworten formuliert werden, besonders dann, wenn es um heikle Themen geht, wie das Umgehen mit der Periode der nationalsozialistischen Herrschaft in der deutschen Geschichte. Wie tief dort noch immer die Gräben sind, hat die sogenannte „Walser-Debatte“ gezeigt, in der es vor allem um einen emotionalen Schlagabtausch (nicht um eine wissenschaftliche Auseinandersetzung wie im sog. Historikerstreit) ging. Walser (geboren 1927) ist kein Vertreter der „Tätergeneration“, wie Zuckermann (geboren 1949) schreibt, sondern ein mit der „Gnade der späten Geburt“ Bedachter. Die Friedenspreisrede von Martin Walser sorgte für Aufregung. Er hatte darin lediglich die Institutionalisierung der deutschen Schande bzw. Schuld beklagt. Aber es ging ihm auch um weitergehende Fragen, wie die nach dem persönlichen Gewissen und dem Verhältnis zum öffentlichen Gewissen. Wenn man den paradigmatischen Denkweg Walsers, eines Autors, der sich wiederholt mit den Fragen der deutschen Geschichte auseinandergesetzt hat, betrachtet, ist diese Rede nicht außergewöhnlich für ihn. (Auslöser für seine Rede war sicher auch, daß sein neuer Roman Ein springender Brunnen für ungenügend befunden wurde, weil Auschwitz darin nicht erwähnt wird.) Im Unterschied zu anderen Stimmen geht es Zuckermann um eine ehrliche, meist sach-liche, nicht von politischen Opportunitäten gesteuerte Auseinandersetzung. Die Grundvoraussetzung wurde an anderer Stelle treffend bezeichnet: „Walser muß Kritik ertragen lernen, gewiß; aber er muß auch sagen dürfen, was er will, ohne Furcht vor ehrabschneiderischen Konsequenzen.“3 Zuckermann vermutet allerdings, daß Walser sich „schon lange im Nicht-ganz-genau-Hinschauen, wenn nicht gar im genauen Wegschauen geübt hat“. Das aber läßt sich überprüfen, da Walser schon früher angemessen zu diesem Thema Stellung bezogen hat - jenseits aller Floskeln und in großer Ehrlichkeit: „Wir sind nicht fertig damit. [...] Ich möchte lieber wegschauen von diesen Bildern. [...] Und wenn ich mich zwinge hinzuschauen, merke ich, daß ich es um meiner Zurechnungsfähigkeit willen tue.“4 Deshalb trüben Bemerkungen, wie „ein Walser im Denkduktus der DVU“, wenn man sie ernst nimmt, den Glauben an die hehren Absichten Zuckermanns.

Die Reden von Wehler und Enzensberger sind in ihrer Wirkung mit der Walsers nicht zu vergleichen. Zuckermann weiß das natürlich und fügt sie an, um seiner These von der Zeitenwende bei linksliberalen Meinungsführern mehr Basis zu geben. Bei Wehlers Verteidigung seines Lehrers Conze handelt es sich eigentlich um ein eher fachliches Problem. Wehlers Fehler war sicherlich, wie Zuckermann meint, nicht klar zwischen Person und Werk unterschieden zu haben. Das ist in der eigentlich weltanschauungsfreien Wissenschaft allerdings nicht so leicht wie in der Kunst. (Zuckermann bringt u. a. Céline als Beispiel dafür.) Zuckermann unterschätzt bei seiner Analyse die persönlichen Motive nicht, die Wehler veranlaßten, dem öffentlichen Druck zu widerstehen und seinen geistigen Vater nicht zu verraten. Das rechtfertigt natürlich noch keine Apologie, und daß man nach Kriegsende kein Nazi mehr war, relativiert nicht das Vorhergehende: „Das war natürlich sehr schön von ihnen, aber irgendwie auch keine sonderlich große Tugendleistung (zumal es sich nach 1945 halt doch lohnte, alldem nicht mehr nachzutrauern).“ Wenn Wehler nationalsozialistische Historiker im „Dritten Reich“ mit marxistischen Historikern in kapitalistischen Ländern vergleicht, so ist das keine Gleichsetzung, sondern ein legitimer Vergleich, der Gemeinsamkeiten und Unterschiede herausarbeiten soll. Zuckermann hält das für einen „Taschenspielertrick“ und unterstellt Wehler, daß er „verstehen“ wolle, um Apologie zu betreiben und nicht um des Verstehens willen. Die Frage ist etwas komplexer: Für Zuckermann ist der Marxismus schon dadurch gerechtfertigt, daß er „eine Theorie der Emanzipation des Menschen von den historisch entstandenen sozialen Strukturen der Ausbeutung“ ist. Nur wird diese Theorie der sozialen Problematik der hochindustrialisierten Zivilisation und der liberalkapitalistischen Globalisierung des 20. und 21. Jahrhunderts mit Thesen und strategischen Erwartungen, die aus der Revolutionsperiode der Mitte des 19.Jahrhunderts stammen, offenbar nicht gerecht. Abschließend ist Zuckermann zuzustimmen: Auch bei Wehler hat ein Lernprozeß stattgefunden, besonders bezüglich seiner Positionen im sogenannten Historikerstreit.

Die Enzensberger-Rede bezeichnet Zuckermann als zynisch bzw. kokett. Enzensbergers unklare (ernste oder satirische) Bemerkungen zur Armut und zum duldsamen „kleinen Mann“ sind marginal und von der Sucht nach Provokation (siehe auch Enzensbergers damaliger Aufsatz zu Saddam Hussein „Hitlers Wiedergänger“) geprägt. Wenn man die Rede ernst nimmt, ist vielleicht Enzensbergers Verwunderung über die Tatsache zu bemerken, daß sich in Deutschland oder auch weltweit nichts ändert. Das sieht Zuckermann anders, und seine Zusammenfassung soll noch einmal die These von der Wende im linksliberalen Zeitgeist unterstreichen. Was hat sich also geändert in Deutschland? Äußerlich ist Deutschland mit dem Regierungsumzug nach Berlin wiedervereinigt. Parallel dazu, meint Zuckermann, komme es zunehmend zu Tabubrüchen in der Debatte um die deutsche Vergangenheit und zu der Forderung nach diesbezüglicher „Normalität“. Ob eine Normalität erringenswert und jemals zu erreichen ist, scheint eine offene Frage zu sein. (Will man so normal, wie der Rest der NATO sein? Scheinbar ja.) Zuckermann findet die Luftangriffe auf Serbien gerechtfertigt und hat sicher recht in seiner Einschätzung: Mit seiner Beteiligung daran ist Deutschland normal geworden. Nebenbei macht sich Zuckermann über die Auswirkungen der political correctness lustig. Was fehlt sind klärende Worte bzw. Erklärungen. Wie hätte die Reaktion Bubis’ ausgesehen, wenn die Beteiligten offen gesprochen hätten? Viele Mißverständnisse hätten wohl verhindert werden können, wie an anderer Stelle gesagt wurde: „Es ist offenbar mühelos möglich, daß sich drei Menschen, die in der moralisch-politischen Sache nichts trennt, über Sprachregeln bis zum Rufmord entzweien.“5

Im vierten Teil des Buches widmet sich Zuckermann noch einmal seinem Hauptthema: der Vergangenheitsbewältigung und Trauerarbeit, die er schon einmal eindrucksvoll in seinem o. g. Buch Zweierlei Holocaust analysiert hat und dessen Thesen nicht weit von denen Walsers entfernt sind: „Das Bestehen auf ,Einzigartigkeit‘ des Holocaust und die einzigartige Inflationierung des ,Holocaust‘ reichen sich im israelischen ,Holocaust‘-Diskurs der letzten Jahre gleichsam die Hand. Hierauf hinzuweisen ist freilich im jüdisch-israelischen Bewußt sein keinem Araber, schon gar nicht einem Deutschen gestattet.“6 Moshe Zuckermann gehört offenbar zu denjenigen Intellektuellen in Israel, die mit langjährigen Tabus der politischen Ideologie Israels brechen. Dabei ist sich der Autor über die stummen Parallelen zu Walsers Bemerkungen zur offiziösen Vergangenheitsbewältigung in Deutschland nicht bewußt. Zuckermann behauptet ja, „daß die bewußte Sublimation des Schmerzes und ihre Manifestation im publiken Bereich des kognitiv erörternden Diskurses als die wohl adäquateste Form öffentlicher Trauerarbeit gelten darf“. Wo also liegt das Problem?

Zuckermanns philosophische Grundannahme, daß das Sein das Bewußtsein bestimmt, ist nicht so klar, wie er behauptet, und bedarf zumindest (um bei der marxistischen Grundtendenz Zuckermanns zu bleiben) der konkretisierenden Ergänzung, daß Differenz und Tendenzhaftigkeit des gesellschaftlichen „Seins“ beim „Bewußtsein“ hohe Spielräume freisetzen und somit ein dialektisches Verhältnis besteht. (Sonst müßten ja alle Angehörigen einer Klasse ein gleiches Bewußtsein haben.) Zuckermann sagt selbst, daß der Kapitalismus es geschafft habe, den Ausgebeuteten ihr Ausgebeutetsein nicht bewußt zu machen. Die deutsche Nachkriegssituation, die Zuckermann recht oft als Beispiel bemüht, illustriert das gut. Nur das Verdrängen ermöglichte die unerhörte Aufbauleistung: „Man solle sich auf die Zukunft und den Wiederaufbau konzentrieren, statt konfliktfördernd in einer schrecklichen Vergangenheit zu wühlen, die ohnehin nicht ungeschehen gemacht werden könne.“7 Seinem Hang zur soziologischen Vereinfachung geistiger und historischer Prozesse gibt Zuckermann noch an anderen Stellen nach. So ist vielleicht auch zu erklären, daß dem Buch etwas fehlt, was moderne Essays sonst zuviel haben: Psychologie.

Nicht neu ist, entgegen Zuckermanns Behauptung, die von Hans von Dohnanyi (ebenfalls kein Angehöriger der „Tätergeneration“) in der Walser-Debatte aufgeworfene spekulative Frage nach dem Verhalten der Juden im Dritten Reich, wenn nicht sie die Verfolgten gewesen wären. Joseph Dunner, Politikwissenschaftler und Zionist, hat diese Frage schon 1952 beantwortet: „Ich zweifle, ob es viele Amerikaner, ja auch viele amerikanische Juden gibt, die unter ähnlichen Verhältnissen bereit wären, nicht nur sich selbst zu opfern, sondern auch ihre Väter, Mütter, Ehefrauen, Ehemänner und Kinder - nur um sich für irgendeine Minderheit einzusetzen.“8 Neu ist allerdings, daß ein Deutscher diese Frage stellt. Zuckermann vermutet, daß mit dieser Frage etwas relativiert und entschuldigt werden soll. Vielmehr geht es wohl um das Verstehen allgemein-menschlichen Verhaltens als Ausgangspunkt der Versöhnung. Und das ist eigentlich auch Zuckermanns Anliegen: Differenz statt Instrumentalisierung. „Beunruhigend ist vielmehr der wirkliche Zustand der Welt. Hinschauen tut not.“

Anmerkungen:

1 Moshe Zuckermann: Zweierlei Holocaust, Göttingen 1998

2 Die Reden sind in folgenden Publikationen nachzulesen: Martin Walser: Erfahrungen beim Abfassen einer Sonntagsrede, Frankfurt/M. 1998. Hans-Ulrich Wehler: In den Fußtapfen (!) der kämpfenden Wissenschaft, in: FAZ, 4. 1. 1999, Seite 48. Hans Magnus Enzensberger: Über die gutmütigen Deutschen, in Der Spiegel 51/1998, S. 218-121

3 Jens Jessen: Armer Walser, in: Berliner Zeitung vom 16. 6. 1999, S. 11

4 Martin Walser: Auschwitz und kein Ende, in: Ders.: Über Deutschland reden, Frankfurt/M. 1990, S. 30 f.

5 Jens Jessen: Das Jahrhundert tritt wutverzerrt auf der Stelle, in: Berliner Zeitung vom 31. 12. 1998, Beilage: Das Jahr 1998, S. I

6 Zuckermann a. a. O. S. 174

7 Heribert Adam: Wer von euch ohne Sünde ist, haftet dennoch für seinen Staat, in: FAZ vom 23. 7. 1999, S. 43

8 Joseph Dunner: Zu Protokoll gegeben. Mein Leben als Deutscher und Jude, München 1971, S. 171


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 05/00 (c) Edition Luisenstadt, 2000
www.luise-berlin.de

zurück zur vorherigen Seite