Eine Rezension von Gisela Reller


„Man darf nicht mit zurückgewandtem Gesicht leben ...“

Gabriele Stammberger/Michael Peschke: Gut angekommen - Moskau
Das Exil der Gabriele Stammberger 1932-1954.
Erinnerungen und Dokumente.

BasisDruck Verlag, Berlin 1999, 472 S.

 

Ein Buch, dachte ich, wie ich es schon x-mal gelesen habe - von jemandem, der glaubt, ein so bewegtes Leben gelebt zu haben, daß es alle Welt interessieren müsse. Gott sei Dank las ich dieses Buch dennoch.

Es handelt von der Architektentochter Gabriele Bräuning, die völlig unpolitisch in den Gesprächskreis der Familie Duncker gerät. Hier wird sie mit Politik konfrontiert und lernt Walter Haenisch kennen, das „rote Schaf“ in der Familie des preußischen Kultusministers nach 1918. Ihn heiratet sie und folgt ihm - mit 22 Jahren, schwanger - an das Marx-Engels-Institut nach Moskau: natürlich voller Ideale, natürlich voller Enthusiasmus und Arbeitselan.

1932 wird ihr Sohn Alexander, genannt Pim, geboren. Die Familie ist glücklich in Moskau. Drei Jahre später wird Walter Haenisch mit der vorgeschobenen Begründung der Personalreduzierung entlassen - in Wahrheit hat er sich durch unüberlegte Äußerungen politisch verdächtig gemacht. Im März 1938 wird er verhaftet, da sehen sich Gabriele und Walter das letzte Mal. Als er längst schon erschossen ist, sucht sie ihn noch immer in den Moskauer Gefängnissen, erhält sie noch immer die Auskunft, daß er zu „10 Jahren ohne Schreiberlaubnis“ verurteilt sei.

Gabriele Haenisch steht nun in fremdem Land mit ihrem sechsjährigen Sohn Pim allein da. Mit ungewohnter körperlicher Arbeit verdient sie sich in einer Seidenspinnerei ihren Lebensunterhalt.

1939 lernt sie Gregor Gog kennen, der Ende der zwanziger Jahre die „Vagabundenzeitschrift“ leitete. Sie verlieben sich ineinander, 1940 wird ihr Sohn Stefan geboren. Welch anrührender Briefchen-Wechsel zwischen Gabi im Krankenhaus und Gregor Gog, dem glücklichen Vater.

Nach dem Überfall Deutschlands auf die Sowjetunion, im Oktober 1941, lassen sich Gabi und der schwer unter einer Wirbelsäulenverletzung leidende Gregor Gog mit den beiden Kindern, dem Säugling Stefan und dem zehnjährigen Pim, nach Mittelasien evakuieren. Welch eine Odyssee! Nach wochenlanger Fahrt treffen sie endlich im usbekischen Fergana ein. Kein zumutbares Quartier, kaum zu essen, das Leben ist schrecklich. Zuerst stirbt Stefan an Lungenentzündung, dann Pim an Gehirnhautentzündung. Gabi und Gregor kampieren in den verschiedensten Unterkünften mit den unterschiedlichsten Menschen. Beide erkranken lebensgefährlich. Dann wird Gregor Gog von der Frau eines NKWD-Offiziers, die auf das Zimmer von Gregor und Gabi neidisch ist, denunziert und daraufhin nach Sibirien verbannt. Als er zurückkehrt, hat er zu seiner schlimmen Wirbelsäulenerkrankung, die ihn oft tage-, ja wochenlang ans Bett fesselt, noch ein Blasen- und Nierenleiden. Wie tapfer ist Gabriele Haenisch! Sie steht stundenlang auf dem orientalischen Basar, um irgend eine Kleinigkeit zu verkaufen (manchmal wird sie von anderen Hungernden bestohlen), überhaupt sorgt sie unter den unglaublichsten Umständen für die tägliche Überlebensportion. Doch überleben können die beiden nur dank der Hilfe von neugewonnenen usbekischen, russischen, deutschen, polnischen Freunden, die im wahrsten Sinne des Wortes ihr Blut für sie geben.

Im Oktober 1945 - als der heißersehnte Frieden schon da ist - stirbt Gregor. Hilferufe Gabis nach Moskau an das ZK der Partei und an Freunde bleiben unbeantwortet. Gabriele schreibt: „Ich bitte sehr, mich nicht zu vergessen.“ Sie wird vergessen. Erst 1954 darf sie in ihre deutsche Heimat zurückkehren.

Obwohl Gabriele Haenisch nun mutterseelenallein ist - ohne ihre geliebten Kinder, ohne ihre Männer, aber voller grausamer Erinnerungen, schreibt sie am Tag ihrer Abreise nach Deutschland: „Man darf nicht mit zurückgewandtem Gesicht leben ...“

Zusätzlich interessant ist das erschütternde Buch durch die vielen Menschen, mit denen Gabriele Haenisch im Laufe ihres Sowjetunionaufenthaltes bekannt geworden war: mit Béla Balázs, Johannes R. Becher, Béla Birnbaum, Klara Blum, Bertolt Brecht, Golda Fröhlich, Hugo Huppert, Irene und Béla Kun, Lotte Loebinger, Hannes Meyer, Walter Macke, Zensl Mühsam, Theodor Plivier, Wilhelm Pieck, Karl Polak, Hans Tombrock, Heinrich Vogeler, Inge und Gustav von Wangenheim, Erich Weinert ...

Im Personenregister, geradezu pingelig-präzise (das ist nicht etwa kritisch gemeint), fehlt kein einziger im Text erwähnter Name - und sei es der Hausmeister in Gabriele Haenischs Moskauer Wohnhaus.

Aber: Was hat Gabriele so viele Jahre später veranlaßt, ihr Leben aufzuschreiben? Wer ist ihr Mitautor? Wie verlief ihr Leben mit ihrem dritten Mann, mit Friedrich Stammberger, der fünf Jahre Haft in einem Besserungsarbeitslager in Norilsk verbrachte, später Häftling, dann Zwangsangesiedelter im dortigen Erzkombinat war. Wie gestaltete sich Gabriele Stammbergers Leben in der DDR? Schade, daß man darüber - z. B. in einem Nachwort - nichts erfährt.

Den emotional außerordentlich ergreifenden Bericht bereichern 90 Dokumente, private und offizielle Briefe, Tagebuchnotizen, viele erschütternde Bittgesuche Gregor Gogs aus Usbekistan an die deutschen Genossen in Moskau.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 05/00 (c) Edition Luisenstadt, 2000
www.luise-berlin.de

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