Eine Rezension von Helmut Hirsch


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Fernöstlicher Kulturschock

 

Uwe Schmitt: Tokyo Tango
Ein japanisches Abenteuer.

Mit 23 Fotografien von Nobuyoshi Araki.

Eichborn Verlag, Frankfurt/M. 1999, 323 S.

 


 

Uwe Schmitt, von 1990 bis 1997 Ostasienkorrespondent der FAZ, hat über viele Jahre nicht nur Zeitungsleser informiert und unterhalten, er hat auch ein erstaunliches Buch über seine fernöstlichen Jahre geschrieben. Das Buch beginnt mit dem letzten Leitartikel Schmitts, der den Titel trägt „Schwermut über Japan“. Zu jenem Zeitpunkt (Februar 1997) befand sich Asiens größte Wirtschaftsmacht in einer tiefen Krise, ökonomisch, politisch, psychologisch. Doch in profunder Kenntnis des Landes endete dieser Zeitungsbeitrag mit den nahezu prophetischen Worten, Japan wird „abermals beweisen, daß nur, wer immer wieder den Halt verliert, seiner Zeit voraus sein kann“.

Inzwischen ist alles schon wieder ganz anders. Japan leuchtet wieder. Und somit kann der Leser, der sich für Tokio oder Japan interessiert, gerade jetzt mit Vergnügen, mit Genuß geradezu dieses Buch von Uwe Schmitt zur Hand nehmen. Ist der Leser dazu noch ein Freund gut gestalteter Bücher, dann ist er hier in der von Hans Magnus Enzensberger herausgegebenen „Anderen Bibliothek“ (Band 171) an der richtigen Stelle. „Dieses Buch“, beginnt Uwe Schmitt, „enthält nun viel von dem, was zu mir und Japan, nicht aber in die Zeitung gehörte.“ Das ist schon der Tonfall des Literaten, und wahrlich, hier werden Dinge erzählt und beschrieben, die des Hinhörens, des Hinsehens wert sind. Mit den spirituellen Ritualen des Ostens bestens vertraut, weiß Uwe Schmitt auch um den richtigen Einsatz für seinen Beitrag. Denn „gerade jetzt, da Japan sich unbeobachtet glauben darf, lohnt sich der Blick hinter die Maske des gefallenen Genies“. Wer dieses Buch liest, sieht sich bald in einen Strudel versetzt, ein pulsierendes Hin und Her von großen Ereignissen und alltäglichen Situationen: eine Kaiserkrönung mit Pomp und Pracht oder der erschrockene Blick in das Reich der Ökonomie. Die Alltäglichkeiten der Japaner sind noch überall erlebbar, die verlorengehenden Rituale des Lebens, denen der Europäer klagend nachjammert. Japan, Tokio: Alles erreichbar, und Schwärme von neugierigen Touristen haben es schon probiert: Das Land hat eine Ausstrahlung, ganz ungewöhnlich, uneuropäisch, rätselhaft. Uwe Schmitt hatte das Glück, nicht Politik, Wirtschaft und Finanzen als Korrespondent schildern zu müssen. Als Kulturkorrespondent fühlte sich der professionelle Jazzmusiker schon eher wohl. Aber der Anfang ist schwer, das Eingeständnis klingt gut: „Ich weiß, daß ich nichts wußte.“ So nur lernt man hören und sehen, schult sich der Blick jeden Tag neu, gelten keine Vorurteile, nichts Angelesenes. So lernt man Leute kennen, die Leute kennen, und schon beginnt das neue, das ganz andere Leben in Japan. Tag und Nacht, in Bars und in Museen, auf Pressekonferenzen, aber auch im Schwimmbad, in den Universitäten und Gerichtssälen. Immer ist alles ganz anders, und der Einbruch des Neuen ist groß und kraftraubend. Immer wieder neue Leute, oft voller Rätsel und reich an Anmut. Auch Häßliches, Gewalttätiges gehört zu dieser Welt in Fernost, ein seltsam in Gegensätzen schillerndes Volk, das „zur Sanftmut gezwungen“ wurde. Die japanischen Frauen „sind überaus frauenhaft - gütig, sanft, treu, hübsch“, zitiert Schmitt den englischen Japan-Reisenden Chamberlain (1850-1935). Alles wahr, aber es reicht nicht aus, um sich ein Bild von der Japanerin in heutiger Zeit zu verschaffen. Fährt man in Frankfurt oder in Berlin mit der U-Bahn, weiß man sofort, was die Leute lesen. In Tokio ist das ganz anders. Auch da wird unterwegs gelesen, doch bleiben Titel und Autoren hinter einem diskreten Papiereinband unentdeckt. Eine hohe Buchkultur noch immer, aber ebensoviel Schund und Kitsch, Massenware. Große Bucherfolge waren das Handbuch des Selbstmordes und die Praktischen Methoden der Rache. Lakonisch kommentiert Uwe Schmitt: „Alles läßt sich lernen, wenn man nur tüchtig übt - Tennis, Zurückhaltung, Sprachen, Rache.“ Er spielt auf die lernfreudigen Japaner an, die in Europa mit Fotoapparaten verblüffen, auf Konzertbühnen Beethoven brillant interpretieren, vielleicht auch in diesen Tagen das zweite Gartenhaus Goethes vom Park an der Ilm weit in den Osten transportieren werden. Tokio schließlich, immer wieder Tokio. Die wenigen Gebäude, „die älter sind als siebzig, achtzig Jahre, gelten als kuriose Versehen“. Alles muß neu sein, auch schrill und nicht selten ein bißchen zu sehr amerikanisch. Maßloses: „25 Millionen Menschen verlassen sich täglich auf die wundersame Sicherheit und Pünktlichkeit der Züge, was die Verkehrsstaus von sechs Millionen Autopendlern allerdings nur mäßig verkürzt.“ Der Japaner wird gehetzt, kaum hat er Zeit für sich und seine Familie. Sein erstes Hobby: Videofilme. Ein ameisenähnliches Leben. Rückt der Blick weiter weg von allem, verstärkt sich der Eindruck größerer Unübersichtlichkeit.

Tokio liegt am Meer, aber es gibt kaum einen Meter natürlicher Küste in diesem Meer der Häuser und der Autos. Schlimm scheinen die kollektiven Rituale der Männer, nicht wenige Beobachter Japans sprechen von „Zwangsjacken-Gesellschaft“. Was Männer beherrscht: eine „Konsumdreifaltigkeit“, bestehend aus Personalcomputer, Handy und Satelliten-Verkehrsleitsystem für das Auto. Ist das noch Japan? Breitet sich das alles nicht längst schon um uns herum aus? Die Welt rückt zusammen, und das „ächzende Getriebe“ Tokios ist nicht mehr weit. Uwe Schmitt hat sich auch die Bürolöwen und urlaubslosen Angestellten genau angesehen. Erfolge ja, aber ihre Gefühle sind ihm fremd geblieben. Nicht frei von Entsetzen ist der Blick auf das soziale Verhalten vieler japanischer Männer: „Das Gefängnis des japanischen Mannes ist ausbruchsicher. Schon deshalb, weil Häftlinge und Wärter identisch sind.“ Rätselhaft bleibt auch die Unbekümmertheit und Selbstvergessenheit der Männer beim Spielen. Eine Art Therapie neben Wohnung und Arbeitsplatz, auch ein fernöstliches oder doch schon ein Weltproblem?

Uwe Schmitt entdeckte bei den Japanern schon eine „Seelenverwandtschaft mit den Deutschen“, wenn er die Tollheiten des alltäglichen Spaß- und Amüsierbetriebes betrachtete. Mehr noch: „Auch dieses Japan, das Land, das stets lächelt und nie über sich lacht, ist eine Erfindung des Westens.“

Kritik an den Mächtigen des Landes ist weniger entwickelt als die „solidarische Alltagskomik der Machtlosen“. Ein Grundmuster, das wiederum Nähe zu Europa verrät. Auch der Unterschied zwischen Idylle und Metropole ist nicht rein japanesk. Alles bewegt sich in Gegensätzen, anziehend und abstoßend zugleich, nur hat es hier eine andere Geschichte, und die ist japanisch; ritualisiert, verschwiegen und offen, geheimnisvoll und dennoch gängelnd und brutal gegenüber dem einzelnen. Phantastisch in diesem Band sind die Fotos von Nobuyoshi Araki. Uwe Schmitt schreibt einmal: „Die gemütliche Unordnung wächst aus den Häusern hinaus auf die Straße und setzt sich von dort wiederum nach innen fort.“ Das ist der Eindruck, den diese Fotos vermitteln, alles fließt und ist festgehalten in einem eigentümlichen Moment der Erscheinung. Japan verleitet zur „Rührseligkeit“, gesteht Uwe Schmitt, es kann abstoßen und erschöpfen. Japanjahre „rechnen wie Hundejahre“.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 05/00 (c) Edition Luisenstadt, 2000
www.luise-berlin.de

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