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Erinnern und Vergessen:

Ein aktuelles Thema in der deutschen Gegenwartsliteratur

Im Gespräch mit Monika Maron

 

Frau Maron, im Februar 1999 ist Ihr neues autobiographisches Buch „Pawels Briefe“ erschienen. Das Buch halte ich für gelungen, denn mit aussagekräftiger Erzählstrategie haben Sie Ihre Familiengeschichte im Rahmen der Zeitgeschichte unseres Jahrhunderts dargeboten. Was mir besonders an Ihrem Buch gefällt, ist die enthüllende Unerbittlichkeit, mit der Sie seit Ihrem ersten Roman „Flugasche“ (1981) hervortreten, die Sie nun sich selbst und Ihren Familienmitgliedern auch nicht erspart haben.

Warum ist es Ihnen nun wichtig, ein autobiographisches Werk zu schreiben? Sehen Sie Ihr Bedürfnis, Ihre Familiengeschichte zu erzählen, mit der Jahrhundert- oder Jahrtausendwende verbunden?

Mit den äußeren Daten hat es eher weniger zu tun. Es hat mehr zu tun mit meinem eigenen Alter, in dem sich Geschichten langsam neigen, und man die Entwicklung rückblickend mit Distanz beurteilt. Wenn man selbst eine Vergangenheit hat, dann sieht man auch die Gesamtvergangenheit wahrscheinlich anders. Es hat auch viel zu tun mit dem Alter meiner Mutter, ohne die ich das Buch gar nicht hätte schreiben können. Ich habe gedacht: Jetzt ist sie über 80 Jahre alt. Wenn ich sie noch fragen will, dann muß ich das jetzt tun. Denn die Absicht, diese Geschichte zu schreiben, hatte ich eigentlich immer, weil mir irgendwann klar geworden war, daß in dieser kleinen Familie so viel deutsche und europäische Geschichte aufgehoben war, daß man es eigentlich erzählen mußte. Ich stand dann nur vor der Frage, ob ich das fiktiv oder dokumentarisch erzähle. Ich habe mich gegen das Fiktive entschieden, auch weil die Dokumente, die ich besitze, z. B. die Briefe meines Großvaters, in einem fiktiven Roman ganz und gar ihrer Wirkung beraubt worden wären, wenn man den Verdacht hätte haben können oder müssen, daß ich mir diese Briefe ausgedacht habe. Ich finde, ihre unglaubliche Wirkung besteht eben darin, daß ein Mensch in dieser Situation, in der er war, so schreiben, so denken konnte - das alleine finde ich mitteilenswert. Außerdem ist es auch eine Reflexion über Erinnern und Vergessen. Das hätte ich in einem Roman auch nicht so schreiben können, wie ich es schreiben wollte, einfach wegen der Wahrheit, der Ungenauigkeit und der Subjektivität von der Erinnerung; auch was das Vergessen eigentlich bedeutet. Ich habe versucht, mich selbst, so gut es ging, rauszuhalten. Das ging nicht immer. Wenn es eine Familiengeschichte ist, gehöre ich nun einmal dazu. Überdies bin ich diejenige, die erzählt, und zum Teil war ich auch Zeugin. Aber es war eigentlich am allerwenigsten ein Buch für mich und über mich, sondern ich wollte die Linien ziehen oder die Punkte verbinden, die da so unverbunden waren.

Ja, Sie waren darin nach 1945 die Zeugin. Aber tatsächlich gibt es weniger Darstellung über Sie selbst als über die Generation der Großeltern und der Mutter.

Vor allem ist meine Mutter sehr wichtig. Sie ist das Bindeglied, sie ist das Scharnier, an der die Geschichte von der einen Seite auf die andere kippt.

Ihre Mutter Hella war 1945 Siegerin der Geschichte, ahnte damals natürlich keineswegs, daß sie nach 40 Jahren verzweifelt mit einer „verdorbenen Biographie“ und „gescheiterte[n] Utopie“ („Pawels Briefe“) konfrontiert werden würde. Wie soll man Biographien beurteilen, die in so ein turbulentes Zeitalter gestellt sind? Bietet Ihr Buch ein Beispiel dafür?

Ich habe versucht, mich der Urteile darüber zu enthalten. Ich habe erzählt, wie es war. Aber es gibt natürlich Konflikte, über die ich mir, weil ich selbst mit ihnen konfrontiert war, im Laufe des Lebens ein Urteil gebildet habe. Die DDR war eine Diktatur, und das muß ich auch sagen dürfen. Aber vor allem hat mich an der Biographie meiner Mutter, die ja eine anständige Frau ist, interessiert, wie sich ihre Entscheidungen nach 1945 oder nach 1950 aus ihrer Vergangenheit und aus ihrem eigenen Erleben legitimieren, ohne daß ich darüber den Stab brechen will, ohne daß ich von Schuld spreche, auch wenn ich diese Entscheidungen nicht akzeptieren kann. Ich wollte nur verstehen, wie es dazu kam. Wie konnte sie so ungebrochen diesen Weg fortführen?! Ich habe keine endgültige Antwort darauf gefunden, aber ich glaube, daß ich doch viel verstanden habe. Manches habe ich auch schon vorher gewußt. Ich habe in dem Buch nach dem Ausweg gesucht, den meine Mutter aus ihrer Biographie hätte finden können. Ich habe ihn nicht gefunden. Mich hat auch interessiert, was aus unserer Familie geworden wäre, hätten meine Großeltern nach dem Krieg noch gelebt. Es war ja nicht nur ein politischer, sondern auch ein kultureller Bruch, der sich da vollzog. Wie hätten wir mit diesen ganz frommen Großeltern gelebt, die ja eine große Ausstrahlungskraft hatten?

Ja, eben da spielt Ihre Phantasie mit verschiedenen Lebensmöglichkeiten! Aber Sie haben auch hingewiesen, Geschichte kann man nicht umschreiben.

Ja.

Haben Sie das Folgende mit Humor und Selbstironie geschrieben: „Wenn ich meiner Biographie eine Gestalt suche, kommt ein dürres eckiges Gebilde zustande, mit willkürlichen Streben nach rechts und links, als hätte da etwas werden sollen, was dem Rest seinen Sinn hätte geben können“ („Pawels Briefe“)?

Ja sicher.

Ich finden in diesem Buch auch bemerkenswert, daß Sie sich hier nicht mehr als „antifaschistisches Kind“ bezeichnet haben, wie ein Titel Ihres Essays offenbart („Ich war ein antifaschistisches Kind“, 1993). Sie haben sich nun anders bekannt: „Ich bin ein Kriegskind“ („Pawels Briefe“). Wie sollte man diese Änderung verstehen?

Der Begriff „antifaschistisches Kind“ ist eine Replik auf Martin Walser. Das steht auch in dem Text. Martin Walser hatte ein Jahr vor mir den Vortrag in München gehalten. Er hat damals über das Thema nachgedacht, über das er in seinem letzten Roman Ein springender Brunnen (1998) auch schreibt. Seine These ist: Wenn ich die Geschichte damals als Kind oder als junger Mann so erlebt habe, kann ich heute nicht so tun, als hätte ich damals schon alles gewußt. Er sagte in dieser Rede: Ich hätte, um damals das Richtige zu erkennen, ein antifaschistisches Kind sein müssen. Und ich habe, bezugnehmend auf seine Rede, gesagt, ich war ein antifaschistisches Kind, und trotzdem ist mir die Suche nach den Leichen im Keller meiner Eltern nicht erspart geblieben.

Ich komme später gern noch einmal auf Martin Walser zurück. Als ich damals Ihr Buch „Pawels Briefe“ in Nashville an unserer Universität vorstellte, wurde ich mit einer Spekulation konfrontiert, wonach Karl Maron, Ihr Stiefvater, 1975 Selbstmord begangen hätte. Das sei ein Skandal in der DDR gewesen, und man könne bis heute noch nicht darüber reden. Das kam mir allerdings sehr fragwürdig vor. Was mir aber in „Pawels Briefe“ noch auffällt, ist, daß kein einziges Bild von Karl Maron zu finden ist, obwohl Sie mit ihm vielleicht 12 Jahre unter einem Dach gewohnt haben. Ein Teil von seinem Erbe haben Sie erhalten, was auch nicht unwesentlich zu Ihrer Schriftstellerei beitrug. Über seinen Tod schreiben Sie ganz kurz. Ich möchte wissen, warum?

Er hat nicht Selbstmord begangen, überhaupt nicht, er ist mit einer Zigarette in der Hand an Herzversagen gestorben. Außerdem könnte darüber geredet werden, wenn es etwas zu reden gäbe. Ich habe wenig über ihn geschrieben, weil es mir um die Biographie meiner Familie ging, in der er nichts zu suchen hat, außer daß er der Mann meiner Mutter war.

Auch nicht im Hinblick auf Ihre Mutter?

Was dafür wichtig war, habe ich geschrieben, z. B., daß meine Mutter sicher auch seinetwegen so blind an ihrer Idee festgehalten hat, weil sie ihn geliebt hat und das neue Leben nach dem Krieg fest mit ihm verbunden war. Außerdem hatte ich über meinen Konflikt mit Karl Maron und seiner Generation vorher schon geschrieben, was ich zu dem Thema zu sagen hatte, z. B. in Stille Zeile Sechs (1991), in der Erzählung Herr Aurich (1982). In dieser Familiengeschichte, in der es wirklich nur um diese polnisch-jüdische Linie geht, hat er nichts zu suchen.

Aber es wundert mich trotzdem, daß ich kein Bild von ihm mit Hella gesehen habe.

Das wollte ich nicht.

Wie war und ist Ihre Beziehung zu Ihrer Mutter? Wie fühlten Sie sich, als Sie später erfuhren, daß die Mutter unter den Umständen der 40er Jahre Sie hat abtreiben lassen wollen? Was hält Ihre Mutter von Ihrem neuen Buch, in dem Sie mit ihrer „Interpretationshoheit“ („Pawels Briefe“) als Verbindung zwischen zwei Generationen dargestellt wird?

Ich kann gut verstehen, daß sie im Krieg und in ihrer Lage kein Kind wollte. Daß ich möglicherweise abgetrieben worden wäre, berührt mich wirklich gar nicht. Dabei empfinde ich überhaupt nichts. Wenn man überlegt, wie viele Kinder entstehen könnten und nicht geboren würden, nur weil ihre potentiellen Eltern sich an einem bestimmten Abend gerade nicht lieben! Mein Verhältnis zu meiner Mutter ist eigentlich in allen Dingen des Lebens sehr gut und ganz herzlich bis auf die politischen Differenzen, die wir seit 30 bis 40 Jahren haben. Sie weiß schon lange, daß wir in vielen Dingen nicht einer Meinung sind, aber in dem Buch kommen unser beider Ansichten vor, und meine Mutter ist mit diesem Buch, so wie es ist, einverstanden und auch froh darüber. Sie wollte, daß ich fair bin, und fair bin ich. Sie fühlt sich nicht attackiert, sondern eher gut behandelt. Ohne sie hätte ich das Buch nicht schreiben können.

Zu Ihrem Artikel „Hat Martin Walser eine zweite Rede gehalten“ am 19. November 1998 in der „Zeit“ hätte ich noch eine Frage: Warum haben Sie Martin Walser verteidigt? Ich muß Ihnen ganz ehrlich gestehen, daß ich ein gemischtes Gefühl hatte, als ich Ihren Artikel las. Einerseits stimme ich mit Ihnen überein, daß die jüngere Generation Deutschlands nicht die Schuld der Faschisten büßen muß. Es geht natürlich um die Normalisierung des Images Deutschlands in der Welt. Andererseits bedenke ich, daß man Sie anders interpretieren könnte. Sollte man jedoch nicht mit strengeren Maßnahmen gegen die zunehmende Gefahr der NPD vorgehen, insbesondere durch die Wirkung der Medien die rechtsextremistische Tendenz bekämpfen? Ich als Ausländerin zum Beispiel wurde diesmal, seitdem ich wieder in Berlin bin, oft gewarnt, auf keinen Fall nach Brandenburg zu fahren: Mir würde der Tod drohen, so hieß es. Vielleicht würden Sie als Deutsche so etwas nicht erleben.

Das sind aber für mich weniger nationalistische Probleme, auch wenn es oft den Anschein hat. Ich halte viele dieser Leute für gar nicht so politisch. Sie sind zum Teil einfach kriminell und intellektuell auf niedrigstem Niveau. Ich glaube, daß es richtig ist, sie streng, auch exemplarisch zu bestrafen, obwohl ich ziemlich skeptisch bin bezüglich der Wirksamkeit von Gefängnisstrafen. Aber ich glaube, da muß ein Staat sich bekennend und auch streng verhalten. Aber das hat für mich wenig mit dem zu tun, was Walser angesprochen hatte. Ich fand, als ich Walsers Rede gelesen habe, daß er recht hat, der Holocaust wird instrumentalisiert. Wenn man in Deutschland eine politische Diskussion führt, hat derjenige, der zuerst „Auschwitz“ sagt, den anderen mit dem Rücken an der Wand. „Auschwitz“ ist das Totschlag-Argument, danach kann man nicht weiter diskutieren. Das ist das eine. Und ich habe Walser verteidigt, weil ich meine, er mußte das sagen dürfen. Die Kampagne gegen ihn und daß Bubis ihn als geistigen Brandstifter beschimpft hat, und das nicht im Affekte, sondern vier Wochen später noch einmal laut und deutlich in seiner Rede zur Kristallnacht, das konnte ich nicht still hinnehmen. Es ging nicht nur um Walser, es ging auch um Redefreiheit.

Das deutet Ihr letzter Satz in der Verteidigungsrede an.

Man muß nicht seiner Meinung sein, man kann mit ihm diskutieren und erklären, warum man seine Rede vielleicht sogar für gefährlich hält, aber man kann ihn nicht als geistigen Brandstifter beschimpfen.

Ich habe mich mal mit dem Thema „Vergangenheitsbewältigung“ in der unmittelbaren Nachkriegszeit beschäftigt. Da habe ich Walsers Drama „Eiche und Angora“ (1962) mitbehandelt, in dem Walser noch die Initiative ergriff, Deutsche aufzurufen, sich mit ihrer Vergangenheit auseinanderzusetzen. Was er aber jetzt tut, damit, scheint mir, distanziert er sich von seinem Ausgangspunkt. Nun betrachtet er die Sachen anders.

Er denkt doch inzwischen nicht, daß der Nationalsozialismus weniger schlimm war. Ich glaube nur, daß er die Verlogenheit der öffentlichen Diskussion und die ritualisierten Schuldbekenntnisse als unerträglich empfindet. Generation für Generation wird ein Schuldgefühl für die deutsche Vergangenheit abverlangt. Aber die nachgeborenen Generationen sind nicht schuldig.

Das stimmt. Die Last der Vergangenheit sollten die heutigen Deutschen nicht mehr tragen.

Wenn zwanzigjährige Deutsche, nur weil sie blond sind, im Ausland als Nazis beschimpft werden, dann finde ich das auch rassistisch. Das hat mit dem, was sie in ihrem Leben getan haben, was sie in ihrem Leben zu verantworten haben, was sie denken und fühlen, nichts zu tun.

Meinen Sie, die rechtsradikale Tendenz bei den Jugendlichen ist in den Medien übertrieben worden? 13 Prozent in einem der neuen Bundesländer haben jedoch die NPD gewählt.

Wissen Sie, ich habe ein Sommerhaus in Vorpommern. Ich weiß, wer diese Jugendlichen sind. Die kenne ich ja zum Teil als Kinder. Sie sind ungebildet und dumm und unzivilisiert. Viele haben Eltern, die ihnen nichts beibringen können. Ihre Lehrer wurden noch in der DDR ausgebildet und trauern heute oft den alten Verhältnissen nach. Sie wählen die PDS und beschwören die alten Zeiten. Diese Jugendlichen finden unter den Erwachsenen wenig Vorbilder, die sie ernst nehmen können in einem so wichtigen Alter, wenn sie zwölf, dreizehn, vierzehn sind und jemanden suchen, von dem sie sagen können, „der ist toll, so wie der will ich werden“. Das gibt es da weit und breit kaum. Dazu kommt wirklich, daß sie, ich weiß nicht, was die für einen IQ haben, Argumenten kaum zugänglich sind. Man muß sie eigentlich, es ist schlimm, so etwas zu sagen, dressieren. Man muß sie zu einem zivilisierten Verhalten zwingen und dressieren. Diese ganzen rechtsradikalen Gruppen - da oben im Norden ist das ziemlich schlimm - sie besetzen die Badeseen, zerschlagen die Boote und die Stege und tyrannisieren ganze Orte. Die Polizei und die Dorfbewohner haben Angst. Es gibt keine Kraft, die sich ihnen entgegenstellt. So ist das. Das hat mit dem, was Walser sagt, wenig zu tun. Hier geht es um Randalierer, um Kriminelle, die nicht nur Ausländer verprügeln, sondern alle, die ihnen nicht gefallen. Sie sind verroht und verwildert. Sie müssen lernen, nach den Regeln einer zivilisierten Gesellschaft zu leben. Das ist etwas anderes als der Kampf gegen einen politischen Gegner. Mit Argumenten sind diese Gruppen auch gar nicht zu erreichen: Sie sehen sich nicht eine Sendung im Fernsehen an oder hören sich eine Rede an oder lesen in einer Zeitung den richtigen Artikel, der sie aufklärt. Jetzt muß man sie erst einmal zwingen, sich an eine bestimmte Ordnung zu halten und weder Inländer noch Ausländer zu verprügeln.

Wie steht „Die Überläuferin“ (1986) zu Ihren anderen Werken? Kann man diesen Roman mit „Flugasche“ (1981) und „Stille Zeile Sechs“ (1991) zusammen als Trilogie ansehen?

Im Prinzip kann man schon die drei Romane als Trilogie betrachten, aber nicht, daß ich sie so geplant hätte. Das habe ich erst hinterher gemerkt. Bewußt anschließend geschrieben habe ich die beiden Romane Die Überläuferin und Stille Zeile Sechs. Sie gehören zusammen. Stille Zeile Sechs fängt da an, wo Die Überläuferin aufhört. Das Buch endet damit, daß Rosalind zu sich sagt: Rausgehen, „vom Regen naß werden, ja das wäre schön“.

Bei manchen jungen Autoren ist die Nationalfrage seit der Wiedervereinigung nicht mehr wichtig. Und die Erinnerungsarbeit wollen sie daher nicht mehr leisten. Sie fassen eher die sozialen Fragen oder Berlin als Metropole ins Auge. Das Buch, das ich jetzt lese, heißt „Die Stadt nach der Mauer“ (1999). Dieses Buch ist stellvertretend für diese neue Tendenz. Es ist selbstverständlich, daß man als Schriftsteller immer neue Sachen ausprobiert. Aber kann man wirklich zehn Jahre nach dem Mauerfall von einer deutschen Einheit reden, so daß man dieses Thema beiseite legen kann? Oder soll man sich über die Uneinheit Deutschlands hinwegtäuschen, statt sich mit dem Thema auseinanderzusetzen? Wie würden Sie die neue Literaturtendenz einschätzen? Würden Sie auch ein neues Thema in dieser Richtung anfangen?

Ich finde das in Ordnung, weil jede Generation ihre eigenen Konflikte hat. Die jungen Autoren erleben ja vermutlich auch diese Teilung, die es nach wie vor gibt, besonders auch in dieser Stadt, anders. Sie wohnen in den gleichen Stadtbezirken, am Prenzlauer Berg oder in Mitte, sie gehen in dieselben Theater, sehen dieselben Filme, haben an denselben Universitäten studiert, dann ist es auch nicht mehr so wichtig, wo man herkommt. Die deutsche Einheit ist für ihr erwachsenes Leben schon Realität gewesen. Das unterscheidet sie von den Generationen, die sich aus ihrer Herkunft oft nicht mehr lösen können. Was sie in 20 Jahren schreiben werden, weiß heute niemand. Vielleicht kommen sie dann, wenn sie selbst eine Vergangenheit haben, aus einer anderen Richtung auf diese Zeit zurück und merken, daß sie viel mehr in Geschichte eingebunden waren, als sie ihnen heute bewußt ist. Jede Generation glaubt, sie fängt ganz neu an. Und wenn sie älter geworden sind, merken sie, sie haben auch nur weitergemacht, wie immer alle weitermachen. Natürlich kann ich nicht sagen, mein Leben fängt erst 1990 an, aber es ordnet sich um einen anderen Mittelpunkt, und die Fragen stellen sich anders. Ich hätte, glaube ich, Pawels Briefe nicht schreiben können, solange es die DDR noch gab. Das wäre ein völlig anderes Buch geworden, wenn es überhaupt zustande gekommen wäre. Jetzt, nachdem das alles vorbei ist, kann ich ruhig und nur mit Interesse, ohne Wut sagen: Jetzt schauen wir mal, was das durch dieses Jahrhundert war, wie es geworden ist und warum. So kühl und so distanziert hätte ich nicht fragen können, solange ich in diesen Auseinandersetzungen befangen war.

Würden Sie nächstes Mal versuchen, einen Mann als Hauptfigur darzustellen?

Noch nicht; ich weiß nicht, vielleicht.

Vielen herzlichen Dank für das Interview, Frau Maron!

Das Gespräch führte Holly Liu (Vanderbilt University, Nashville).


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 05/00 (c) Edition Luisenstadt, 2000
www.luise-berlin.de

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