Eine Rezension von Horst Wagner


Ansichten zu einer alten, neuen Vision

Klaus Höpcke/Hans-Joachim Krusch/Hans Modrow/Harald Neubert/ Wolfgang Richter/Robert Steigerwald (Hrsg.):
Nachdenken über Sozialismus

GNN Verlag, Schkeuditz 2000, 431 S.

 

Ende März hatte es dieser Titel auf der Bestsellerliste Ost immerhin schon auf Platz 10 unter den Sachbüchern gebracht, obwohl er eigentlich nicht viel mehr als ein Konferenzprotokoll ist. Jedenfalls basieren die sechs Vorträge und 31 Beiträge des Sammelbandes im wesentlichen auf Materialien der wissenschaftlich-politischen Konferenz „Nachdenken über Sozialismus“, die am 23. und 24. Oktober 1999 in Berlin stattfand. Zu dieser partei- und organisationsübergreifenden Veranstaltung mit etwa 200 Teilnehmern aus ganz Deutschland und zahlreichen ausländischen Gästen hatte ein mit dem Herausgeberkollektiv identischer Initiatorenkreis aus dem Umfeld von PDS und DKP eingeladen.

Das bestsellerträchtige Interesse am nunmehr gedruckt vorliegenden Nachdenken dürfte wohl auch damit zusammenhängen, daß ein großer Teil der ostdeutschen Bevölkerung - wie Umfragen belegen - entgegen dem „Nie wieder Sozialismus!“ der Wendetage nach fast zehnjähriger Erfahrung mit dem realen Kapitalismus der Meinung ist: Sozialismus ist eigentlich eine gute Sache, er ist nur in der DDR schlecht verwirklicht worden. Anliegen der Konferenz und damit des Buches scheinen mir im Vortrag des Historikers Harald Neubert recht treffend charakterisiert: „Was verstehen die linken Kräfte heute - nach der neoliberalen Wende des dominierenden Kapitalismus und nach dem Scheitern des ,realen‘ Sozialismus in Europa unter sozialem Fortschritt und Sozialismus.“ Wobei Neubert auch gleich die Schwierigkeiten für dieses Nachdenken benennt, die sich für ihn u. a. aus einem Rückstand im marxistischen Denken und aus der Krise des überlieferten Fortschrittsverständnisses ergeben. „Sozialisten und Kommunisten“, so Neubert, „müssen sich ehrlich eingestehen, daß ihre einst hoffnungsvollen Gesellschaftsprojekte in einer Krise ohne Ausweg endeten, daß ihre Utopien zu guter Letzt der Realität nicht gerecht wurden, während zur gleichen Zeit wesentliche Gründe ihres Kampfes für Alternativen heute nicht nur weiterhin präsent, sondern zum Teil akuter denn je sind und durch weitere ergänzt wurden.“

Es wäre sicher vereinfachende Schablone, wollte man sagen, daß in den vielgestaltigen Beiträgen des Buches eine Kontroverse zwischen dogmatischen, apologetischen Auffassungen und neuer, schöpferischer Herangehensweise zum Ausdruck kommt. Aber eine unterschiedliche Qualität bzw. Tiefe des Nachdenkens ist doch unübersehbar. Erfährt man z. B. aus dem einleitenden Vortrag von Hans Modrow leider kaum Neues, reduziert sich der Beitrag des Sozialwissenschaftlers Robert Steigerwald im wesentlichen auf eine Verteidigung der marxistisch-leninistischen Revolutionstheorie, so bietet z. B. der Journalist und Kulturpolitiker Klaus Höpcke interessante Überlegungen über demokratischen Sozialismus als Glaubensbekenntnis und Zukunftsgesellschaft, zur Frage Leistungsanspruch und soziale Sicherheit, zum Verhältnis von Marktwirtschaft und deren negative soziale Folgen vermeidende staatliche Regelungen sowie zu einer notwendigen Erweiterung des Totalitarismusbegriffes hinsichtlich gegenwärtiger Kapitaldiktatur an. Während einige Autoren sich auf die These beschränken, der Kapitalismus habe sich in seinem Wesen nicht gewandelt, finden sich beim Zeitgeschichtler Stefan Doernberg oder beim Ökonomen Gert Friedrich gründliche Analysen darüber, worin konkret neue Erscheinungsformen der Kapitalherrschaft bestehen, zu welchen Veränderungen sie in der Gesellschafts- bzw. Klassenstruktur geführt haben und welche Schwierigkeiten, aber auch Chancen sich daraus für einen möglichen „subjektiven Faktor“ zur Überwindung der Profitdominanz ergeben. Polemisiert Michael Benjamin, Sprecher der Kommunistischen Plattform der PDS, ausführlich gegen die in seiner Partei vertretenen Positionen von einem Dritten oder Non-Profit-Sektor der Volkswirtschaft, so verzichtet er jedoch auf eigene Überlegungen zur Überwindung der Massenarbeitslosigkeit in der heutigen Gesellschaft, wie überhaupt das Thema Zukunft der Arbeit im Buch unterbelichtet scheint.

Im Zusammenhang mit der gegenwärtigen Programmdiskussion in der PDS werden zum Teil recht unterschiedliche Standpunkte zur Eigentumsfrage im Sozialismus, zum Begriff der Moderne, zu friedenssichernden Einsätzen der UNO und natürlich auch hinsichtlich der Bewertung der DDR vertreten. So setzt sich der Juraprofessor Detlev Joseph gründlich mit der politischen Strafjustiz in der DDR auseinander, wendet sich aber entschieden dagegen, die DDR als Unrechtsstaat zu bezeichnen, und verweist auf Gebiete wie Arbeits-, Zivil- und Familienrecht, wo sich die DDR-Praxis positiv von der der BRD unterschied. Meinungsunterschiede, aber auch Gemeinsamkeiten von DKP und PDS machen vor allem die Beiträge des Bremer Journalisten Willi Gerns und des Wuppertaler DKP-Funktionärs Georg Polikeit deutlich.

Zugegeben, manches wiederholt sich auch in diesem Sammelband, manches ist ermüdend angesichts vieler Zitate und einer oft komplizierten Schreib- bzw. Redeweise. Darüber hat sich auf der Konferenz offenbar auch der bekannte Rechtsanwalt Friedrich Wolff geärgert, der sich in seinem fast am Schluß des Bandes stehenden Beitrag gegen „lange dröge Programme, noch längere Kommentare zu Programmen und nichtssagenden Thesen zu künftigen Programmen“ wendet, „die der Wähler nicht liest, geschweige denn versteht ... Klar sagen, was Sache ist, das sollten wir können“. Um so erfreulicher, daß Wolff versucht, in einer frischen, lebendigen, kurze Sätze bevorzugenden Diktion drei Fragen zu beantworten: Woher kommen wir? Wo sind wir angekommen? Wohin gelangen wir? Manche Leser mögen Wolffsche Antworten wie die nachfolgende für zu einfach oder zu einseitig halten: „Die DDR ist nicht gescheitert, weil der Marxismus falsch war, sondern weil sie vielfach opportunistisch seine Aussagen mißachtete, wenn sie den Führern unbequem waren, weil man scholastisch wiederkäute, was unter neuen Bedingungen nicht weiterhalf.“ Manche mögen überhaupt ihre Einwände gegen die in diesem Sammelband vertretenen Thesen haben. Zum Nachdenken anregend ist dieses Buch über das „Nachdenken ...“ allemal. Wobei sein Gebrauchswert sicher noch gewonnen hätte, wenn sich Herausgeber oder Verlag die Mühe eines Registers gemacht hätten.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 05/00 (c) Edition Luisenstadt, 2000
www.luise-berlin.de

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