Eine Rezension von Kurt-Rainer Martin


Die Wirtschaft und der Rest der Welt

Hans-Olaf Henkel: Jetzt oder nie - ein Bündnis für Nachhaltigkeit in der Politik

Siedler Verlag, Berlin 1998, 218 S.

 

Unbestreitbar verfügt Herr Henkel über mehr als die erforderliche Kompetenz, um als Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI) die Interessen der Großindustrie nachhaltig zu vertreten. Ob auch die des größeren Teils mittelständischer Betriebe, erscheint schon mehr als zweifelhaft.

Es grenzt aber gelinde gesagt an Roßtäuscherei, wenn er sich zum Anwalt der Arbeitnehmer und sozial Schwachen aufwirft. Mag auch manche fromme Seele gerührt von Henkels wohltätigen Absichten erfahren, wie er sich um die Zukunft unserer Kinder sorgt und für die Gestrauchelten der Gesellschaft spendet, aber seine Aufforderung zum Generalangriff auf den Sozialstaat ist unübersehbar.

Die sich bietende Gelegenheit ist eben so einmalig verführerisch günstig. Rücksichtnahme um des lieben Friedens willen scheint nicht mehr erforderlich, da immer mehr Leute um ihre Arbeitsplätze zittern. Deshalb: „Jetzt oder nie“, die Sache nachhaltig beim Henkel gepackt zum Wohle der eigenen Kinder und Enkel! Auf gefüllten Pfeffersäcken sitzend, lassen sich leicht Sparvorschläge machen, wenn andere die Kosten tragen.

Der BDI-Präsident sieht als erwiesen an, „daß Liberalisierung, Privatisierung, Deregulierung die besten Rezepte für Wachstum, Arbeitsplätze, Wohlstand und letztlich auch für Solidarität mit den Schwachen der Gesellschaft sind“, denn schließlich gebe „es einen eindeutigen Zusammenhang zwischen der Möglichkeit, in einem Land durch unternehmerische Tätigkeit Geld zu verdienen, und der Bereitschaft, dort Arbeitsplätze zu schaffen“.

Richtig ist, daß Henkels Rezepte generell Arbeitsplätze kosten und nur im Ausnahmefall neue schaffen. Wen wundert’s? Schließlich wird investiert, um Geld zu verdienen, und das mit möglichst wenig Arbeitskräften.

Wie es um die Substanz der Analysen und die Wahrheiten des Industriemanagers Henkel bestellt ist, läßt folgendes Beispiel erkennen: Einerseits konstatiert er hohe Unternehmensrenditen als Grundvoraussetzung für Arbeitsplätze, andererseits bestreitet er den Zusammenhang von Kaufkraft der Bevölkerung und Schaffung von Arbeitsplätzen. Listig fügt er letzterer Aussage das Wörtchen „automatisch“ hinzu. Richtig ist: Einen Automatismus gibt es weder in dieser noch in jener Hinsicht! Nur - die Ausgangslage der Interessen ist sehr unterschiedlich.

Ein „Bündnis für Nachhaltigkeit in der Politik“ wäre an sich schon wünschenswert. Nur - die Henkelsche Politik garantiert der einen Seite nachhaltig sichere Höchstgewinne und bietet der anderen nichts als leere Versprechungen.

Aufgabe der Politik muß es sein, gesamtgesellschaftliche Rahmenbedingungen zu schaffen, die wirtschaftlich-technischen und sozialen Fortschritt vereinen, was übrigens in der Präambel zum Maastrichter Vertragswerk nachgelesen werden kann. Nur diesem Grundsatz folgend, ließe sich der Prozeß der Globalisierung als „Umbruchskraft unserer Epoche“ (Henkel) dienstbar machen. So aber muß die Globalisierungsfalle weiterhin erbarmungslos zuschnappen: Sozialabbau, Streichung von Arbeitsplätzen, Produktionsverlagerung ins Ausland. Einheitliche Sozialstandards? Denkste, denn die behinderten schließlich den Wettbewerb - und Leute wie Henkel bedienen die Hebel.

Die von ihm aufgeführten Fakten sind als solche durchaus nachprüfbar. Aber ihr Zusammenhang wird vom Autor willkürlich hergestellt und die Motivlage mißdeutet.

Beispiel: Der Mitgliederschwund der Gewerkschaften sei Folge des Strebens nach individueller Selbstbestimmung. Nicht etwa mangelhafter Interessenvertretung der Mitglieder?

Wie Henkel seinem Konzept, das auf die weitere Spaltung der Gesellschaft hinausläuft, den Stempel der Solidarität aufzwingen will, muß wohl sein Geheimnis bleiben.

Es geht nicht an, von allen Bürgern wirtschaftspolitische Logik zu fordern und sich der Logik gesamtgesellschaftlichen Denkens zu entziehen. Wo Henkel als Sachwalter der Unternehmerinteressen spricht, wirkt er glaubhaft. Alles andere erscheint als Staffage. Dabei könnte alles so einfach sein: Einführung eines Wahlrechts mit differenzierter Stimmenzahl nach Einkommen und Vermögenslage. Dann bildete sich nach den Spielregeln der Demokratie ein Wählerwillen heraus, der keinen Politiker hemmen könnte, nachhaltige Politik im ungeschmälerten Interesse des BDI zu verfolgen. Es zeugt von beispielloser Arroganz in den führenden Kreisen, wenn sich „die Wirtschaft“ über die Gesellschaft als Ganzes erhebt. Bleibt zu hoffen, daß die Einsicht in die wachsenden Gefahren für den sozialen Frieden regelnde Vernunft stiften wird.

Insgesamt: Herrn Henkel sind die Linien Demokratie und Menschenrechte in seinem Buch zu kurz geraten, um sie mit dem Strang Marktwirtschaft zu einem Dreieck fügen zu können, geschweige denn zu einem mit gleichen Seiten.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 05/00 (c) Edition Luisenstadt, 2000
www.luise-berlin.de

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