Eine Rezension von Ron Winkler


Minuswind im Land

Frank Willmann: Wachsen und Werden
Gedichte.
Mit einem Vorwort von Wladimir Kaminer und
Illustrationen von Lutz Heyler.

Ventil-Verlag, Mainz 1999, 120 S.

 

Daß Erinnerung kein Absolutheitsanspruch ist, daß sie trügt oder zumindest eine geringe Halbwertzeit hat, zeigten nicht zuletzt die Diskussionen um die Bewertung der DDR, welche gerade anläßlich des imaginären fünfzigsten Jahrestages wieder auflebten. Zwischen den Akzentuierern einer Babyjahrprogressivität einerseits und denen der Repressionsdiktatur andererseits öffneten sich die zum Topos gewordenen weiten Felder. Es gab, so der sozialwissenschaftliche Konsens, eben nicht eine DDR, sondern schätzungsweise bis zu sechzehn Millionen Ostdeutschlands.

Eine davon hat Frank Willmann zu umreißen versucht. Der Berliner Autor, via Weimar durch die ostdeutsche Sozialisation gegangen, konterkariert den „ddrschmerz/ der dichter & hühner/ gackern lässt“. Der ostdeutsche Staat wird in der Lyrik Willmanns zum Panoptikum, die hehre Chronologie der Geschichte flockt aus zu Müllerschen „Inseln der Unordnung“.

Wachsen und Werden - ein Nachruf mit Trauerflor ist das nicht. Eher ein Abgesang mit mal hämischer, mal mitleidiger, mal aber auch post-traumatischer Akzentuierung. Die „einhundert lyren“ machen klar, daß nach der Gründung der DDR zum Regen die Traufe kam und das sozialistische Ideal bald mit dem Bade ausgeschüttet wurde. „der besondere weg landete / im müll“, heißt es gleich zu Beginn, und für den Autor bleibt nur noch, in dem übriggebliebenen Haufen des bloß Faktischen nach Verwertbarem zu suchen.

Willmann versteckt keine didaktischen Rezeptionsanweisungen und staffiert die Verse auch nicht mit geschichtsdeutendem Intellektualismus aus. Die hundert Strophen Abgesang sind zumeist exzellente Farcen - sarkastische Cluster, in denen sich Staatspolitik mit den Subroutinen des Alltags in rasanter Weise vermischt.

Mit lakonischem Ton preßt Willmann Geschichte in einen Katalog von lyrischen Sequenzen, die auf bestimmte Ereignisse, Umbrüche, Erwartungen oder Utopiezerstörungen verweisen. Manchmal recht weitläufig, manchmal im Detail nicht ganz plausibel, erscheint auf einmal eine ganze 40-Jahre-Tragik in nur zwei Zeilen: „leider gabs ... opfer beim opferabschaffen/ platzten nähte hielten dämme nicht.“

Die Texte chargieren zwischen Monologen über einem konsequent zerschredderten Geschichtsbuch und zynischen Zwiegesprächen mit den Betroffenen aus SBZ und Nachfolgestaat. Auf dem ironisch arrangierten Trümmerhaufen des realsozialistischen Koordinatensystems erstehen grotesk gefügte Lyriken, die den ostdeutschen Zukunftsversuch in allen Aspekten beleuchten. Wachsen und Werden ist der Versuch einer Kulturanthropologie mittels intelligenter Verwurstung gesellschaftlicher und politischer Eckdaten. Inmitten von Stalineskem, Bitterfelder Weg und den volkseigenen Nutten der Leipziger Messe ist so noch Raum für Schuhkrisen oder eine Ode an die Massenpraline „Schlagersüßtafel“.

Frank Willmann formt Sprache zu Harlekinade und hintersinniger Suada. Die Gedichte haben einen subtilen, fesselnden Rhythmus und sind frei von privaten Befindlichkeiten und Nostalgiemomenten. Erinnerung ist hier keine selbstverliebte Gedenktafel, sondern dezidierte Dekonstruktion jedweder Mythen. Wachsen und Werden ist ein konzentriertes Sudelbuch, das den Sozialismus dieses Jahrhunderts in vier Worten zu fassen vermag: „oktober gab oktober nahm“.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 05/00 (c) Edition Luisenstadt, 2000
www.luise-berlin.de

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