Eine Rezension von Eberhard Fromm


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Biographie häppchenweise

 

Der ganze Mensch ist widerwärtig
Anekdoten von Friedrich Nietzsche.

Gesammelt und aufgeschrieben von Thomas Wieke.
Eulenspiegel Verlag, Berlin 2000, 144 S.

 

 

Was erwartet man von einer Anekdote? Sie soll vor allem unterhalten, sie soll knapp und pointiert sein und über eine reale Persönlichkeit Charakteristisches aussagen. Was gesagt wird, muß nicht immer wahr sein, aber es muß treffsicher sein. Insofern ist eine gut erdachte Anekdote besser als eine umständlich erzählte wahre Begebenheit.

Wenn nun ein ganzes Büchlein voller Anekdoten steckt und es dazu noch aus dem Eulenspiegel Verlag kommt, erhofft man sich vergnügliche Stunden. Den Titel überliest man schnell, denn man ist ja gespannt darauf, was es an echten Anekdoten über den so ernsten Friedrich Nietzsche zu erzählen gibt. Erst später wird einem klar, daß hier ein Wagner-Wort zum Titel erhoben wurde, das eine echte und eindeutige Ablehnung und Disqualifikation Nietzsches enthält. Aber da ist man schon mitten drin in den Texten, die nach Ansicht des Herausgebers etwas schaffen sollen, das es bisher noch nicht gibt: „eine fröhliche Biographie“. Warum man die aber unter das Motto des Wagner-Urteils stellen sollte, bleibt das Geheimnis des Herausgebers.

Ich wage die Behauptung, daß sich die Persönlichkeit Friedrich Nietzsches und sein Leben kaum für Anekdoten eignen. Die wenigen hier erzählten echten Anekdoten haben einen festen Platz in den unzähligen Nietzsche-Biographien, wo sie eingepaßt sind in die - je nach Standpunkt des Autors mehr oder weniger - sachliche Darstellung des Lebens und Denkens Nietzsches. Losgelöst aus dem Kontext, zeichnen sie meist kein treffendes Bild der Persönlichkeit. Die meisten Texte sind allerdings m. E. keine wirklichen Anekdoten, sondern in einzelne Stückchen zerlegte Biographieteile. Viele der hier erzählten Geschichten kann man zum Beispiel in der dreibändigen Nietzsche-Biographie von Curt Paul Janz (Curt Paul Janz: Friedrich Nietzsche, 3 Bände, München-Wien 1978) wiederfinden, die in der Literatur des Herausgebers leider nicht aufgeführt ist. Solche Textstellen aus der Biographie werden auch nicht zur Anekdote, wenn darin Schwester Elisabeth zum „bigotten Pflänzchen“ gemacht wird oder man vom „durchgeknallten Philosophen“ spricht. Überhaupt sind die Textstellen über den erkrankten Nietzsche unter dem Dach einer Anekdotensammlung ein wenig makaber.

In seinem Nachwort (oder „Die Geburt der Biographie aus dem Geiste der Anekdote“) wird der Herausgeber plötzlich unangemessen ernst, wo man zumindest hier eine dem Eulenspiegel Verlag entsprechende „fröhliche“ Interpretation erwartet hätte. Er unterstellt u. a. der DDR-Philosophiegeschichtsschreibung eine „Übernahme der nationalsozialistischen Nietzsche-Interpretation“ und erhebt Nietzsche zum „Vertreter der Eigentlichkeit“, da er „in allem eigentlich Dilettant“ gewesen sei.

Das Büchlein liest sich schnell durch, ist aber leider wenig vergnüglich.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 05/00 (c) Edition Luisenstadt, 2000
www.luise-berlin.de

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