Eine Rezension von Volker Strebel


Wenn Bücher schreien könnten ...

Lenka Reinerová: Zu Hause in Prag - manchmal auch anderswo

Aufbau-Verlag, Berlin 2000, 188 S.

 

Weise, aber keineswegs abgeklärt, erzählt die 84jährige Lenka Reinerová aus ihrem Leben. Die neuen Geschichten verraten einmal mehr das journalistische Handwerk, welches sie in der legendären „Arbeiter Illustrierten Zeitung“ gelernt hatte und in der Emigrantenredaktion der Prager „Deutschen Volkszeitung“ vervollkommnete. Lenka Reinerová lebt in Prag und schreibt auf deutsch. Damit repräsentiert sie als eine der letzten eine ehemals stattliche Tradition der Prager deutschen Literatur. Eine deutsch-tschechische Mischung ist ihr nicht fremd: „Mit deutschen Büchern bei mir hat es eine besondere Bewandtnis. Da stehen Kisch, Kafka, Weiskopf, Rudolf Fuchs, Max Brod bis hin zu meinem langjährigen Freund und Zeitgenossen Eduard Goldstücker und anderen lieben Pragern neben- und übereinander.“ Die meisten von ihnen hat Lenka Reinerová persönlich gekannt, mit Theo Balk war sie verheiratet. Kein Wunder also, daß ihre Gedanken immer wieder abschweifen und Bilder wie auch Begegnungen jener Zeit freigeben. Ein unbehaustes Mädchen in London inspiriert Reinerová am Ende dieses Jahrhunderts zum Nachdenken über ihr eigenes Leben. „Mancher vorerst unverständlichen Erscheinung konnte ich, als ich heranwuchs, auf den Grund kommen, anderen nicht. Geblieben ist mir die Unruhe.“ Reinerová erinnert sich an ihr erstes eigenes Zimmer in der Melantrichgasse 7, an das jüdische Viertel in Prag und natürlich an die Wirren ihres Exils. Auf der Flucht vor den Nazis war Lenka Reinerová wie viele andere Flüchtlinge auch im „Notausgang aus Europa“, in Marseille, gelandet.

Zum erstenmal in ihrem Leben macht sie die Erfahrung des Gefängnisses. Sie wird sie in den 50er Jahren als Wiederheimgekehrte in ihrer Geburtsstadt Prag wieder machen müssen. Weitere Stationen ihres Exils sind Casablanca und vor allem Mexiko. Auch ihr guter Freund aus Prager Tagen Egon Erwin Kisch - der „rasende Reporter“ -, Walter Janka oder Anna Seghers waren in diesem gastfreundlichen Land untergekommen.

In ihren Erinnerungen legt Lenka Reinerová ein gutes halbes Jahrhundert zurück: „Wenn ich vor meinen Büchern stehe, kommt all das beinahe greifbar auf mich zu. Hole ich dann den einen oder anderen Band aus der gedrängten Reihe hervor, so gerate ich oft in eine ganz besondere Stimmung. Da summt es mit einemmal um mich. Dann sind sie, Tod und Leben zum Trotz, auch wieder alle bei mir, meine Freunde aus Mexiko, mit ihren großen Hoffnungen und einstigen Vorhaben, auch mit der stillen Angst: Werden wir überhaupt je zurückkehren können und endlich wieder zu Hause sein? Der Freude der Heimkehr folgte viel Bitterkeit und Enttäuschung. Wenn Bücher schreien könnten ...“

Die alte Dame der Prager deutschen Literatur wohnt heute am linken Ufer der Moldau in Smíchov-Košíre gegenüber dem Klamovka-Park und war dennoch auch in Mexiko zu Hause. Das Nachdenken über dieses Jahrhundert, welches zugleich ihr Leben war, hat ihr auf eigentümliche Art eine jugendliche Frische belassen. In der Liebesgeschichte „Die Schiffskarte“, welche sich, wie sollte es anders sein, unter Exilanten in der französischen Hafenstadt Marseille abspielt, beweist Lenka Reinerová, daß ihre Erzählungen, wie das Leben selbst, für unverhoffte Wendungen und überraschende Pointen gut sind.

Für ihr Schaffen wurde Lenka Reinerová 1999 als erste der Schillerring der Deutschen Schillerstiftung zugesprochen. In seiner Laudatio unterstrich der Botschafter der Tschechischen Republik František Cerný den Lebensweg von Lenka Reinerová und attestierte ihr eine der „wichtigsten, weil authentischen Stimmen“ dieses Jahrhunderts.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 05/00 (c) Edition Luisenstadt, 2000
www.luise-berlin.de

zurück zur vorherigen Seite