Eine Rezension von Hans-Rainer John


Vom Scheitern eines Lebensplans

Kenizé Mourad: Der Garten von Badalpur
Roman.
Aus dem Französischen von Carina von Enzenberg.

Piper Verlag, München 1998, 608 S.

 

Kenizé Mourad hat mit Im Namen der toten Prinzessin das Buch ihres Lebens geschrieben. Es war die recherchierte Biographie ihrer Mutter, der türkischen Sultanin Selma, die kurz nach Geburt ihrer Tochter im Alter von 30 Jahren starb. Die Kindheit als letzte Prinzessin im osmanischen Herrscherhaus, das Heranreifen zur jungen Frau im Exil in Beirut, der Ausweg aus Abstieg und Verarmung durch die standesgemäße Eheschließung mit dem Radscha von Badalpur, der Versuch, sich in einer der starren Tradition verhafteten indischen Männergesellschaft zu behaupten, und sein Scheitern, die Flucht nach Paris unter dem Vorwand der bevorstehenden Entbindung, dort Kriegsausbruch und Besetzung, Niederkunft, Krankheit und Tod - welch ein Leben! Und mit welcher tiefen psychologischen Einfühlung, Allgemeines und Individuelles, Weltgeschichtliches und Biographisches souverän miteinander verbindend, von der Autorin nachempfunden und auf hohem sprachlichem Niveau aufgezeichnet! Das Buch wurde mit Recht zum internationalen Bestseller, der allein in Deutschland eine Auflage von einer Viertelmillion erreichte.

Angesichts des Erfolgs lag der Gedanke an ein zweites Buch mit der eigenen Biographie nahe. Jetzt liegt es vor (die Bezeichnung „Roman“ ist dafür freilich abwegig). Leider wurde das Niveau des ersten Buches nicht gehalten. Ganz offenbar fehlte der Autorin der Abstand zum eigenen Erleben. So kam es nicht zu einer objektivierten Darstellung, die zweifellos das tiefe Mitgefühl des Lesers ausgelöst hätte. Statt dessen lesen wir die Offenbarungen einer vom Leben tief verwundeten, sich stets zurückgesetzt fühlenden Seele, die immer wieder in ihrer Sehnsucht nach Identität, Familie und Vaterland gefühlig badet. Sogar ihre Glücksgefühle, die selten genug auftauchen, wirken überspannt und befremden. Die unkritische Darstellung der eigenen Befindlichkeit dominiert weitaus, sie bestimmt die Auswahl der geschilderten Ereignisse, die sich mitunter im kleinlichen Aneinanderreihen verlieren, und vernachlässigt zugunsten des Individuellen das Allgemeine.

Kenizé, im Buch Zahr genannt, wurde nach dem Tod ihrer Mutter von einem Bediensteten beim Botschafter der Schweiz in Paris abgegeben, der sich mit seiner Frau des Babys liebevoll annahm. Nach seiner Abberufung erhielt das Kind andere, mehrfach wechselnde Pflegeeltern, die sich alle gut um das Mädchen kümmerten und sie als Christin aufzogen, gleichwohl die Sehnsucht nach dem eigenen Vater un der eigenen Mutter und nach einer Heimat - sei es die Türkei, sei es Indien - nie vollends zu bannen vermochten. Auf der Suche nach der eigenen Identität, drang Zahr wohl auch in das linksabdriftende Studentenmilieu ein und hatte gemäß der Propagierung sexueller Freizügigkeit verschiedene Verhältnisse. Erst nach dem 21. Lebensjahr darf sie ihrem Wunsche entsprechend nach Indien ausreisen und ihren Vater, den inzwischen politisch entmachteten und ökonomisch enteigneten Radscha von Badalpur, kennenlernen. Alle Sehnsüchte scheinen nun in Erfüllung zu gehen. Auf Anhieb liebt sie Land und Leute als die ihren, sie möchte alle Menschen umarmen, den Boden küssen. Kritiklos himmelt sie ihren Vater an, der zwar liberalen politischen Ideen anhängt, sein Leben aber streng nach konservativem Brauchtum gestaltet und die Tochter unerbittlich in die dienende, abhängige und zurückgezogene Rolle der indischen Frau zwingt. Aus sentimentalen Gründen ordnet sie, die als moderne Frau in Selbständigkeit aufgewachsen ist, sich widerspruchslos unter, ungeachtet der Tatsache, daß an diesem Mann die Ehe ihrer Mutter gescheitert ist. Als der Vater erfährt, daß sie nicht mehr unberührt ist, bedrängt er sie mit sexueller Annäherung. Zahr ist entsetzt, will erst ihn, dann sich umbringen, entschließt sich letztlich zur sofortigen Abreise.

Sie geht nach Paris zurück, findet berufliche Erfüllung (sie wird Korrespondentin des „Nouvel Observateur“, eine mutige Berichterstatterin aus Kriegs- und Krisengebieten), findet aber weder einen dauernden Lebenspartner noch familiäres Glück. Nach zwanzig Jahren erst sucht sie die Wiederannäherung an den Vater. Der denkt inzwischen an seinen Tod und teilt den Besitz unter den Söhnen auf. Als Zahr enttäuscht ist, nicht bedacht zu werden (in Indien sind nur männliche Nachkommen erbberechtigt), übereignet ihr der Vater einen Garten von 300 m2 auf dem Grundbesitz von Badalpur, in den einst ihre Mutter sehr verliebt war. Aber nach seinem Ableben erkennt der älteste Sohn als Haupterbe die Schenkung nicht an und zerstört den Garten. Zahr führt einen Prozeß, der das dreißigfache des Streitwertes kostet. Sie gewinnt, kann aber aus dem Sieg keinen Nutzen ziehen, weil sie nun zutiefst verfeindet ist mit dem Halbbruder, dem neuen Herrn von Badalpur. Sie kann dorthin nicht mehr zurück, muß den Besitz wegschenken.

Ist das „der authentische Bericht einer mutigen Frau, die es geschafft hat, ihren Platz zwischen zwei Welten zu finden“? (Den Klappentext hat ohnehin jemand entworfen, der nur flüchtig ins Buch geblickt haben mag, denn er verlagert gleich im ersten Satz den Garten von Badalpur in die indische Königsstadt Lucknow.) Ist es nicht mehr der Report eines Scheiterns? Der kleine beschauliche Garten nämlich, der dem Buch seinen Namen gab, sollte die Aussöhnung mit dem Vater, ihre Aufnahme in die Familie und das Land ihrer Vorfahren besiegeln, ihrem lebenslangen Umherirren ein Ende bereiten. „Er ist die Nabelschnur aus Erde und Blut zu einer gestohlenen Vergangenheit, in ihm wurde sie ein zweites Mal geboren, er ist ihr Hafen, ihr Zuhause, ihre Familie und Heimat in einem. Er hat nicht nur all ihre Zweifel zerstreut, sondern ihr auch die außergewöhnliche Gelassenheit eines Menschen verliehen, der sich anerkannt und geliebt fühlt. Zum ersten Mal hat sie eine Vorstellung von dem bekommen, was man Glück nennt.“ So hoch zum Symbol erhoben, handelt es sich bei dem Verlust wohl um mehr als eine beiläufige Schlappe, über die hinweg man rasch zu neuen Taten schreitet. Mit solchen Gleichnissen versehen, kündet der Verlust wohl mehr vom Scheitern eines Lebensplanes. Sie steht am Ende allein und mit leeren Händen da. Ob dieses Resümee greift die Autorin mit den letzten 22 Zeilen doch noch zu einem Romanende und läßt sich selbst zur Legende werden: Sie läßt Zahr spurlos verschwinden. Es bleibt offen, ob sie von Handlangern des tobenden Bruders umgebracht, von moslemischen Extremisten ermordet, von extremistischen Hindus erschossen wurde oder... „Ist Zahr ... einfach nur zu neuen Horizonten aufgebrochen, leichtfüßig und endlich bereit, durchs Leben zu tanzen?“

Natürlich wird über dem Biographischen Allgemeines nicht ausgespart. Es ist ein geschickter Schachzug, daß der Leser den indischen Kontinent staunend mit Zahrs Augen, mit den Augen des Neuankömmlings, kennenlernen kann. Die Schilderungen des Landes, der Verhältnisse und Sitten sind auch hier tief eindringend und von großem Interesse. Wer allerdings Im Namen der toten Prinzessin gelesen hat, wird selten von Neuem überrascht. Neu ist zum Beispiel die meisterliche und tief erschütternde Darstellung der Erstürmung und Zerstörung der Moschee von Babur durch Hindus, was seinerzeit (6. 12. 1992) auch die Weltpresse bewegte. Aber die nach Innen gerichtete Sicht, Larmoyanz und ein gefühlig-sentimentaler Ton überwiegen. „Sie liebte es, sich an diesem Ort in voller Länge auszustrecken“, heißt es da zum Beispiel vom Garten von Badalpur, „zu spüren, wie das warme Beben ihren Körper durchläuft, den Duft von Gräsern und Blättern zu atmen, um sich den Garten auf noch innigere Weise zu eigen zu machen; am liebsten hätte sie sich in ihm vergraben, sich in seine braune Erde geschmiegt, sich an ihr genährt, um mit ihm zu verschmelzen, in ihm aufzugehen und in Gestalt von Tausenden Blumen und Früchten, Schmetterlingen und Marienkäfern wiedergeboren zu werden.“

Nun rezipieren Leser bekanntlich unterschiedlich. Der eine mag solche Stellen als poetisch preisen, für den anderen sind sie unangemessen überspannt. Auch die Sicht auf Kenizé Zahr kann differieren. Man kann in ihr eine mutige, kämpferische Frau sehen, der Gerechtigkeit über alles geht, man kann sie aber auch als eigensinnig und hartschädelig empfinden, als eine Frau, die sich zu sehr in sich selbst versenkt. Mir erscheint sie oft kämpferisch an der falschen Stelle, was sie mitunter starrsinnig und unflexibel wirken läßt, und manchmal zu weitgehend kompromißbereit dort, wo es unangebracht ist. Sie selbst ist zu einer kritischen Sicht leider nicht willens. Ich denke, sie bedauert, daß es ihr nicht vergönnt war, leichtfüßig durchs Leben zu tanzen.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 05/00 (c) Edition Luisenstadt, 2000
www.luise-berlin.de

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