Eine Rezension von Bernd Heimberger


Ewig verletzte Weiblichkeit

Andreï Makine: Das Verbrechen der Olga Arbelina
Aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller.

Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2000, 317 S.

 

Mehr von Makine! Das kann man inzwischen aufrichtig freudig ankündigen. Der Sibirjake Andreï Makine, der seit 1987 in Paris zu Hause ist, hat sich nicht nur als Virtuose der französischen Sprache bei den Lesern eingeschmeichelt. Kein Erzähler seichter Hollyday-Storys, hat Makine die Linie der russisch-französischen Geschichten fortgesetzt, die in der europäischen Literatur der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts mehr als nur eine Nebenrolle innehatten. Wer das Vergnügen hatte, Das französische Testament zu lesen, läßt nicht mehr locker, wenn der Schriftsteller auftaucht. Erneut nimmt er mit zurück in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Es ist Sommer 1947. Am Ufer eines Flüßchens sitzt eine Frau: verwirrt, mit zerrissenem Kleid, Kratzspuren auf der Brust. Die Frau will schuld sein am Tod des Mannes, der, wenige Meter von ihr entfernt, aus dem Wasser geholt wird. Jeder kennt die Frau. Sie ist die „Fürstin Arbelina“. Alt wie das Jahrhundert, ist die russische Emigrantin, Bibliothekarin in einer Enklave der Exilierten, das heißt in einer Kleinstadt, die eine Stunde von Paris entfernt ist. War’s Mord? War’s ein Unfall? Niemand glaubt an Das Verbrechen der Olga Arbelina, wie der neue Roman von Andreï Makine heißt. Der Titel ist kein Makine-Titel. Wäre nicht zuvor der Roman Die Liebe am Fluß Amur dagewesen, wäre „Die Liebe der Olga A.“ der passendere Titel gewesen. Der Erzähler hat keinen Krimi geschrieben. Nicht mal eine kriminalistisch getönte Geschichte. Geboten wird eine Lebens-Verstrickungs-Geschichte, die an Dramatik mit der Dramatik der Zeitgeschichte wächst. Am besten ist der Roman, wenn Person- und Zeitgeschichte bezugsreich verbunden bleiben. In Das Verbrechen der Olga Arbelina ist das nicht häufig der Fall.

Makine spricht von der „Heldin des Dramas“, zu der er Olga A. erkoren hat. Sein Roman ist das dramaturgisch geschickte Drehbuch eines Dramas. Höhepunkt und Ende sind nicht der vermeintlich verbrecherische Unfalltod eines älteren Mannes. Das Drama ist das lebenslang versuchte, vergebliche Lieben Olgas. Auf die Fünfzig zugehend, fühlt sie sich vom lieblosen Leben erschöpft und verweigert sich doch Alter und Tod. Eher andeutend denn ausführlich erzählt der Autor Episoden, die Olgas Biographie begreifbar machen. Die Lebenschronik einer Vertriebenen wird überschaubar, der das Schicksal unbeschwertes Verliebtsein und ungetrübte Liebe verwehrte. Das Begehrtsein erlebt sie immer als Begierde der Männer, die sie - tatsächlich - mißbrauchen und gebrauchen. Wer vergeht sich also an wem? Olga, die einen aufdringlichen „Verehrer“ zurückweist, der umkommt? Die Abwehr fällt Olga leicht, denn, endlich, hatte sie die Nächte aller Nächte. Als „Eine schlafende Geliebte“ war sie berührt und geliebt worden. Der, der sie glücklich machte wie kein Mann, ist ein lebensbedrohter Bluter, ist ein Vierzehnjähriger, ist Olgas Sohn. Ist diese Mutter-Sohn-Begegnung Vorstellung oder Wirklichkeit? Ist die Beziehung das Verbrechen? So wenig Makine die Geschichte eines Verbrechens erzählt, so wenig erzählt er die eines Inzests oder Mißbrauchs. Am wichtigsten ist ihm, von der ewig verletzten Weiblichkeit zu erzählen. Das ist ein Verbrechen, das von wenigen Verbrechen übertroffen wird und kaum geahndet. Oft erzählt Andreï Makine die traurig-schöne, schön-traurige Geschichte der Olga Arbelina so leise, daß man sehr hellhörig sein muß, um alles mitzubekommen. Manchmal erzählt er so umschweifig-geheimnisvoll, daß man die Lust verliert zuzuhören. Zumal, wenn ihm für das Geheimnisvolle nur noch Sätze einfallen wie: „Der Schrei erstarrt auf ihren Lippen.“ Zumeist gelingt es Andreï Makine, die Dramatik der Geschichte in Makinescher Art zu erzählen, die das Weghören schwermacht. Manche mögen sich die Mäuler zerreißen über Das Verbrechen der Olga Arbelina. Soll’n sie doch! Die Pharisäer! Die Moralisten!


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 05/00 (c) Edition Luisenstadt, 2000
www.luise-berlin.de

zurück zur vorherigen Seite