Eine Rezension von Rulo Melchert


„Ab heute bist du endgültig verloren“

Jewgeni Jewtuschenko: Der Wolfspaß
Abenteuer eines Dichterlebens.
Aus dem Russischen von Thomas Reschke.

Verlag Volk und Welt, Berlin 2000, 432 S.

 

In einer Fragment gebliebenen „Vorzeitigen Autobiographie“ bekennt sich Jewgeni Jewtuschenko zu einer Wahrheit, die der Dichter gnadenlos über sich selber schreiben muß, ein Paradigma, das natürlich zu allererst von seinen Gedichten gilt. Dabei unterteilt Jewtuschenko die Autobiographie in eine äußere und eine innere; für die innere reklamiert er die Gefühle und Gedanken; für die äußere bleiben die faktischen Lebensstationen, Daten, die unseren Weg säumen, den wir gegangen sind. „Das Werk eines wirklichen Dichters“, heißt es dann, „ist nicht nur ein sich bewegendes, atmendes, klingendes Porträt der Zeit, sondern auch ein Selbstporträt, ebenso umfangreich und expressiv gezeichnet.“ Was Jewtuschenko hier in der „Vorzeitigen Autobiographie“ postulierte, hat nun auch für die jetzt vorliegende Autobiographie Der Wolfspaß Gültigkeit; der frühe Text, der die Zeit bis zum Erscheinen des Gedichts „Babi Jar“ beschreibt, wurde in den neuen Text einmontiert, es mußte nicht noch einmal erzählt werden, was schon erzählt war. Früh beginnt, wie kann es anders sein, das Kind Jewtuschenko Gedichte zu schreiben, die Mutter zerreißt sie; doch hartnäckiges Weiterschreiben überwindet eines Tages nicht nur die Schwelle des Elternhauses, sondern auch die der Redaktion von „Sowjetsport“. Hier nämlich zeigt sich einer interessiert, Tarassow mit Namen; als das erste gedruckte Gedicht 1949 erscheint, kommentiert die Mutter: „Ab heute bist du endgültig verloren.“ Es ging nicht nur Jewtuschenko so; die Biographien der Dichter sind voll von Unverständnis, aber immer ist da auch einer, der sich des Talents liebe- und verständnisvoll annimmt. Außer Tarassow ist da noch dessen Freund Barlas, ein Physiker; der nun macht den jungen und wißbegierigen Jewtuschenko mit der Weltliteratur bekannt, mit Hemingway, Hamsun, Joyce, Steinbeck, Faulkner, Saint-Exupéry, mit Nietzsches Also sprach Zarathustra und Thomas Manns Der Zauberberg, „der“, wie Jewtuschenko sagt, „aus dem Leiden der Menschheit gebaut war“. Eine erstaunliche Leseliste, aber damit nicht genug: „Ich berauschte mich an dem Schwung von Whitman, an dem Ungestüm von Rimbaud, an der Saftigkeit von Verlaine, an der Rafinesse von Rilke, an den unheimlichen Visionen von Eliot.“ Nicht die ganze, aber doch die halbe Moderne strömt auf den werdenden Dichter ein. Wichtig vor allem aber auch, daß er Zugang zu den russischen Klassikern findet, die in der Schule als langweilig empfunden wurden, zu Puschkin, Lermontow, Block, Jessenin, Majakowski, Pasternak. Aber zunächst liegt Jewtuschenkos Zukunft nur in der eines „Zeitungsdichters“; daß in jedem Text ein Stalin-Lob enthalten sein muß, ist für ihn noch ganz in der Ordnung. Das ändert sich erst im März 1953, mit Stalins Tod. „Dieser Tag“, sagt Jewtuschenko, „war ein Umbruch in meinem Leben und folglich auch in meiner Dichtung.“ Später, 1989, in dem Film „Stalins Begräbnis“, wird dieser Tag wie ein apokalyptisches Ereignis aus der Erinnerung herausbrechen, in großartigen Bildern und Sequenzen. Jewtuschenko beginnt zu begreifen, daß künftig niemand mehr für ihn und seine Generation denken würde, sondern daß man es selber tun müsse, „denken, denken und nochmals denken“, ein Leninscher Umkehr-Satz.

Der Wolfspaß, als Autobiographie, beginnt logischerweise mit der Geburt Jewgeni Jewtuschenkos, im Sibirien des Jahres 1932. Die Nacht vom 17. auf den 18. Juli wird, nach einer Erzählung des Vaters, heraufbeschworen. Auf der Bahnstation Nishneudinsk sitzt der Moskauer Geologe A. R. Gangnus mit dem Stationsvorsteher beim Kartenspiel, während seine Frau, Sinaida Jewtuschenko, im Entbindungshaus einen Sohn zur Welt bringt. Der Vater, Gedichte vortragend, die er selbst geschrieben hat, ist guter Dinge; anders der Stationsvorsteher, der beim Spiel alles verliert, er erschießt sich. Ein bißchen Familien-Genealogie folgt; von Tante Ra hört Jewtuschenko immerhin schon 1945 sagen, Stalin sei ein Mörder; auch von Lagern und Erschießungen ist die Rede. Enthüllt wird auch die deutsche Herkunft der Familie Gangnus. Dann die Schule, wo Jewtuschenko einen „Wolfspaß“ erhält; im zaristischen Ruß land war das ein Dokument der Unzuverläßlichkeit, das einem den Zugang zum Staatsdienst und zu Lehranstalten versperrte; in der Sowjetzeit war „Wolfspaß“ eine offizielle negative Beurteilung, ausgestellt von der Schule, dem Institut, der Gewerkschaft, der Komsomol- oder Parteigruppe. So gebrandmarkt, war es schwer, vorwärtszukommen, einen Beruf zu ergreifen, eine Tätigkeit auszuüben. Jewtuschenko will sagen, er habe es trotz „Wolfspaß“ zu etwas gebracht, aus eigener Anstrengung, aber auch, weil sich nach Stalins Tod die Zeiten entschieden änderten. Am Ende, als Resümee, kann Jewtuschenko von sich sagen: „Es war mein Schicksal, in der widernatürlich zweigeteilten Welt nach Maßgabe meiner schwachen Kräfte an dem rostigen, doch noch immer eisernen Vorhang zu rütteln und mich durch seine Löcher mit den rachsüchtig scharfkantigen Rändern in die uns gestohlene übrige Welt zu zwängen.“ Doch noch ist es nicht soweit. Die Autobiographie, die chronologisch beginnt, reißt jetzt schon auf, hängt sich nur noch lose an Jahreszahlen, geht dann in Anekdoten über und schmückt sich mit Porträts von Zeitgenossen des Dichters. Jewtuschenko, vor allem Lyriker und nur hin und wieder ein Prosaist, findet durch diese lockere Art und Weise die ihm angemessene Form, sein Lebensmaterial zu ordnen und sich zu erinnern. Das Zwanghafte des Chronologischen, das ja auch die Gefahr in sich birgt, das Selbstporträt mit dem Porträt der Zeit immer wieder in Übereinstimmung zu bringen, hat Jewtuschenko umgangen, statt dessen aber ein Hin-und-Her, dieses zu sehr Zufällige, die Geschichten nach der Natur. Da steht dann die Geschichte seiner vier Frauen neben Zensur-Geschichten und Film-Geschichten. Nebenbei klärt Jewtuschenko sein Verhältnis zu Scholochow, Axjonow und Chruschtschow, beschreibt seine Begegnung 1963 mit Picasso in Südfrankreich und die Schwierigkeiten, die er nach einem Treffen mit Robert Kennedy in der UdSSR-Botschaft in New York hatte.

Festigkeit bekommt die Autobiographie dann mit den folgenden Porträts, ausführliche oder nur skizzenhaft angedeutete Prosastücke, die Jewtuschenkos Freundschaften und Begegnungen mit Dichtern und Wissenschaftlern festhalten, von Pasternak bis Lew Kopelew. Eindringlich beschwört er Pasternak, den für ihn berühmtesten russischen Dichter des 20. Jahrhunderts, der selbst Majakowski übertrifft. Seine Liebe zu Pasternak begann 1950 bei einer Lesung im Zentralen Schriftstellerklub, wo aus der „Faust“-Übersetzung gelesen wurde. Später, als bekannter Dichter, ist Jewtuschenko öfter bei Pasternak; dieser lobt Jewtuschenkos Kraft, Energie und Jugend; von ihm auch bekommt Jewtuschenko den Doktor Shiwago als Manuskript für eine Nacht zu lesen; das Manuskript zurückgebend, weiß Jewtuschenko nur zu sagen: „Mir gefallen Ihre Gedichte besser.“ Jetzt, mit dem Abstand der Jahre, will er es wiedergutmachen, indem er sich ausführlich über den Roman Pasternaks, der den Nobelpreis dafür bekam, äußert, eine wahre Lobeshymne. „Doktor Shiwago ist wohl der zärtlichste Roman des zwanzigsten Jahrhunderts, das sich an seinem Autor grausam gerächt hat“, schreibt Jewtuschenko. „Das Jahrhundert war so paranoisch auf Politik fixiert, daß es diesen Roman als politisches Buch wahrnahm, dabei war es vor allem ein Buch über die Liebe.“ Auch über Schostakowitsch findet Jewtuschenko herzliche und warme Worte. Der berühmte Komponist schreibt eine Musik zu „Babi Jar“, die erweitert sich dann zur 13. Sinfonie, ein erstaunliches Werk. Auch „Die Hinrichtung Stepan Rasins“ ist vom Text Jewtuschenkos unterlegt. Anders Alexander Solschenizyn; dessen Erzählung Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch, veröffentlicht 1963 in „Nowy Mir“, war für Jewtuschenko von der Wirkung einer detonierenden politischen Sprengbombe, aber schon mit Der Archipel GULAG und Das rote Rad tritt er für ihn aus dem Rahmen der Literatur. Es folgen Beschreibungen von Begegnungen mit Nazim Hikmet, dem türkischen Dichter, mit Sacharow, der die Wissenschaft heldenmütig opfert und bewußt zum politischen Kämpfer wird, mit Katajew - ein Abend in Paris 1963 wird eindringlich beschrieben -, mit dem Maler Zelkow und mit Bulat Okudshawa - „vielleicht der wichtigste Verteidiger des russischen Liedes gegen die Verflachung“, der auch Jewtuschenko immer wieder verteidigte. In der Tat ist es ein abenteuerliches Leben, das Jewtuschenko in Der Wolfspaß als großes Selbstporträt gestaltet, von vielerlei Erfolg und Mißerfolg gekennzeichnet, ein Dichterleben in den Korridoren der Macht und in der Weite der Welt. Scharf und auch heiter wird die Zeit betrachtet, mehr als ein halbes Jahrhundert an russischer und an Weltgeschichte.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 05/00 (c) Edition Luisenstadt, 2000
www.luise-berlin.de

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