Eine Rezension von Gabriele Brang


Schwachstellen zurücklassen

 

Kerstin Hensel: Der Tappeinerweg
Novelle.

Verlag Die Scheune, Dresden 1999, 100 S.

 

Sieht man einmal davon ab, daß es unter Literaturwissenschaftlern wie Dichtern eine weitgehende Übereinstimmung in der Charakteristik ihrer klassischen Form gibt, ist kein literarisches Genre so uneindeutig definiert wie das der Novelle. Robert Musil schreibt dazu in Die Novelle als Problem: „... ein starker Dichter entwertet alle Probleme, denn seine Welt ist anders ... Aber man möchte denken, daß er nur als Ausnahme eine bedeutende Novelle schreiben wird. Denn eine solche ist nicht er, sondern etwas, das über ihn hereinbricht, eine Erschütterung; nichts, wozu man geboren ist, sondern eine Fügung des Geschicks.“

Nun ist diese Fügung des Geschicks auch über Kerstin Hensel hereingebrochen und hat sie, nachdem die Autorin sich auf allen anderen literarischen Gebieten recht erfolgreich probiert hat, die noch fehlende Novelle schreiben lassen. In der heutigen Literatur eine wenig verbreitete Erzählform, auf die wohl schon deshalb in der Umschlaggestaltung des „Tappeinerwegs“ hingewiesen wird. Ein bemerkenswerter Fakt, haben doch bedeutende Novellenverfasser wie Thomas Mann oder Franz Kafka ihre Arbeiten lieber als Erzählungen bzw. Geschichten bezeichnet, um sich dem formalen Anspruch zu entziehen. Vielleicht will die Autorin aber auch nur Günter Grass’ bewußte Provokation der „traditionellen“ Literaturkritik fortführen. Grass gab nämlich aus genau diesem Grunde seinem Katz und Maus den Untertitel „Novelle“. Und wem bekannt ist, daß die Autorin einst am Literaturinstitut Leipzig studierte, der kann sich des Gefühls nicht erwehren, eine Prüfungsarbeit vor sich zu haben. So klassisch, nein, fast so klassisch ist ihre Novelle angelegt.

Hensel führt uns in eines jener kleinen, trauten Familienhotels, am Fuße des Tappeiner Höhenweges gelegen, die für Südtirol so typisch sind und ohne die seine landschaftliche Idylle nicht komplett wäre. Im Hause der Familie Meccani treffen an einem Frühsommerabend sieben deutsche Urlauber ein, und was zuerst wie eine normale Schilderung deutsch-deutscher Urlaubsbekanntschaften aussieht, entpuppt sich für den Leser rasch (ein Merkmal der Novelle) als ein Aufeinandertreffen von Psychopathen. Anders lassen sich die im Verlauf der Handlung immer skurrileren Handlungen der einzelnen Personen nicht erklären. Außer man weiß um das Gebot, daß in das „Alltägliche“, den Gang des Geschehens, etwas „Unerwartetes“, als dominierende Intention einer Novelle, eintreten muß. Das „Alltägliche“, das mit- und nebeneinander Agieren von Hotelpersonal und Gästen, versteht die Autorin, so anschaulich wie prägnant zu erzählen. Dabei ist ihr nichts Menschliches fremd. Alle ihre Protagonisten sind mit Ticks und psychischen Makeln behaftet, die in der Gesamtheit ihres Wechselspiels schon wieder ganz normal wirken. Da ist der in jeder Hinsicht verklemmte Sonderschullehrer Scharrel aus Stade, der im jahrelangen Umgang mit Debilen selbst trottelig geworden ist, während der aus Berlin kommende Geschichtsprofessor Gösta Kotterba, ewiger Nörgler, alles und jeden verachtend, der nicht seines Geistesstandes ist, in eitler Selbstgefälligkeit seine Theorie vom freien Denken dogmatisiert, um wie zum Hohn die ihm hörig ergebene Studentin Wiebke auf infamste Art sexuell zu erniedrigen. Wohingegen Siegfried und Anneros Kulisch aus Chemnitz und ihr bayerischer Gegenpart Mechthild und Sepp Engelhuber die klassischen Vertreter einer deutschen Vergangenheit sind, die noch nicht lange genug zurückliegt, um ihr literarisch keine Beachtung mehr zu schenken. Nein, sie nehmen sich nicht viel, der einstige Gruppenführer der Gesellschaft für Sport und Technik und der lederbehoste, ehemals in russische Gefangenschaft geratene Bayer. Zu ähnlich, wenn auch unter umgekehrten Vorzeichen, ist beider geistige Gesinnung, die sich im auffallenden Gleichklang ihres militaristisch gefärbten Vokabulars äußert. „Ich kann gar nicht so viel fressen, wie ich kotzen möchte“, mehr als diesen Satz Max Liebermanns braucht es nicht, um beide zu charakterisieren. Dabei ist die Figur Kulischs nur vage und mit widersprüchlicher Glaubhaftigkeit gezeichnet. Erzählt er über seine Zeit als Gruppenführer bei der GST, wirkt der Stil der Autorin hölzern und aufgesetzt. Noch unverständlicher ist das Verhältnis zwischen ihm und seiner Frau Anneros. Einerseits will sie sich ihrer Ehe entziehen, indem sie jegliches Essen verweigert, andererseits fordert Anneros aus Sorge um seinen Seelenfrieden Kulisch auf, das Beten zu lernen.

Die Peripetie, der entscheidende Wendepunkt, da „sich mit scharfem Akzente zeigt, was Menschenleben überhaupt ist“ (F. Th. Vischer, „Novelle“, 63), beginnt mit der Schilderung eines Hausfestes für die Gäste, wo aus der bisherigen „Vorfallsnovelle eine Persönlichkeits- und Charakternovelle wird“ (Wolfgang Kayser), und so fehlen selbst das Tragische, die magische Gewalt der Zerstörung und das Todesmotiv in Hensels Novelle nicht.

Als würde eine Zeitbombe aus angestauten Aggressionen und unterdrückten Gefühlen platzen, überschlagen sich nun die Ereignisse. Jeder der Anwesenden, angefangen vom schwulen Sohn Meccanis bis zur bulemikranken Anneros Kulisch, versucht, sich auf seine Art zu befreien, von den Fesseln despotischer Zwänge, unterschwelliger Demütigungen und der unerträglich gewordenen Last eines sinnlosen Lebens. In der Flucht vor sich selbst, vor dem Leben mit seinen Problemen zieht es sie auf diesen sinnbildlichen, steilen, steinigen Tappeinerweg, der irgendwo zwischen ewigem Eis und den Weiten des Himmels endet, da, wo die Freiheit grenzenloser nicht sein kann. Erlösung findet dadurch keiner von ihnen, denn was bedeutet die Qual einer mühsamen Bergbesteigung gegen die quälende Erkenntnis des eigenen Versagens. „Rien ne va plus“, nur das Leben geht weiter. Unerbittlich.

Novelle birgt als Wort die Vorstellung der Neuigkeit, beim „Tappeinerweg“ mag eher das Resümee “Nihil sub sole novi“, nichts Neues unter der Sonne, gelten, denn waren des Menschen Eigenheiten jemals anders, als die hier geschilderten?

Abgesehen von wenigen Ausnahmen ist Kerstin Hensels Stil von beachtlicher erzählerischer wie suggestiver Sprachgestaltung. Das Prüfungsfach „Novelle“ hat sie jedenfalls gemeistert.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 05/00 (c) Edition Luisenstadt, 2000
www.luise-berlin.de

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