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„Berlin: Das ist meine Stadt“

Im Gespräch mit Margot Weyrauch


Frau Weyrauch, kürzlich durchstreiften wir gemeinsam die neue Berliner Gemäldegalerie im Kulturforum. Ich weiß, Sie lieben Kunst, und vor den Italienern oder Niederländern sah ich Ihre Augen leuchten. Wollten Sie nicht auch einmal Kunstgeschichte studieren?

Ja, das wollte ich. Angeregt wurde ich durch meine Deutschlehrerin, bei der wir freiwillig(!) einmal in der Woche Kunstunterricht nahmen. Später blätterte ich gern in den Zigaretten-Alben von Reemtsma, die ich alle gründlich durchlas und in die ich die Bilder sorgfältig einklebte. Wie gut, dachte ich immer, daß mein Vater R 6 rauchte! Hier in Hamburg habe ich wieder einen sehr engagierten Kunst-Lehrer: Er fährt mit dem Volkshochschulkurs zu Ausstellungen in andere Städte, macht sehr gute, sachkundige Führungen, neulich waren wir in Den Haag und in Amsterdam. Sehr schöne, viele alte Niederländer und Rembrandt. In Berlin übrigens schaue ich mir immer die Sammlung Berggruen an, sie ist hervorragend in dem Stüler-Bau in Charlottenburg untergebracht. Wir können dem Sammler Berggruen äußerst dankbar sein, daß er seine wunderbare Sammlung seiner Heimatstadt Berlin als Leihgabe überlassen hat.

Sie kommen aus einer preußischen Offiziersfamilie. Was bedeuten Ihnen heute Traditionen und preußische Tugenden?

Ich mag keine Traditionen. Was die preußischen Tugenden angeht, so halte ich einiges davon, und mein Vater war mir dafür ein Vorbild. Vielleicht sehe ich ihn mit dem Abstand der Jahre zu positiv, weil ich ihn seit meinem 18. Lebensjahr kaum noch gesprochen habe. Er war bescheiden, fleißig, pünktlich, nüchtern, ehrlich, rücksichtsvoll.

Sie sind ein Kind der frühen zwanziger, also auch der sogenannten goldenen Jahre. Wie erlebten Sie in Berlin jene Zeit und wie den Übergang von den „goldenen“ in die „braunen“ Jahre?

Ja, ich war ein Kind in den Zwanzigern, habe aber wenig von diesen Jahren, was Kunst, Literatur, Theater betrifft, mitbekommen. Also Berlin, das fängt an mit „Bolle bimbim, die Milch ist zu dünn, der Käs’ ist zu dick, Bolle bist varrückt!“ Und das erste Eis vom Bolle-Wagen: der „Kalte Kuß“. Dann im Schrebergarten die Jungens, die ich beneidete, weil sie so einfach pinkeln konnten. Berlin ist für mich zunächst Wilmersdorf mit seinen Gründerzeit-Häusern, den Kinos rundherum, der Kaiserallee (jetzt Bundesallee) mit dem Café Josty, vor dem ich mein erstes Rendezvous mit Wolfgang hatte, zu dem ich eine halbe Stunde zu spät kam. Dann der Nikolsburger Platz, an dem meine Schule stand und um den Erich Kästners „Emil“ sich herumtrieb. Meine Freundin Danica, die ich beneidete, weil sie die Schule schwänzte und vormittags ins Kino Unter den Linden ging. Und meine Fahrten mit der U-Bahn, Richtung Krumme Lanke, oder mit der Linie 57 zum Roseneck, mit den Bussen immer oben auf dem damals noch offenen Deck. Das Kadewupp, die häßliche Gedächtniskirche, die Normaluhr am Bahnhof Zoo. Schließlich unsere vorweihnachtlichen Fahrten zu Wertheim am Potsdamer Platz. Im Sommer das Strandbad Wannsee mit dem Verkäufer, der „Knubberkirschen“ rief. Das Anstehen am Sonntagmorgen nach billigen Theaterkarten (eine Mark). Die ersten Erlebnisse im Deutschen Theater mit „Coriolan“, im Staatstheater „Hans Sonnenstössers Höllenfahrt“ mit Gustaf Gründgens. Mein Lieblingsplatz: der Gendarmenmarkt. Und endlich kamen auch Konzerte in der Philharmonie. Und die Museumsinsel! Und schließlich noch für mich ganz was Neues: Dienstverpflichtung in einem Kinderhort an der Warschauer Brücke. Die vielen Hinterhöfe, auch das ist Berlin. Und Gleisdreieck!

Berlin nach dem Krieg: das erste philharmonische Konzert, wohl im Juni 1945 im Titania-Palast, einem Kino. Die Diskussionen nachmittags in der Redaktion des „Ulenspiegel“ in Dahlem, Brechts „Mutter Courage“ im Deutschen Theater. Die Künstler-Kolonie am Süd-westkorso, wo ich nach dem Krieg mit Wolfgang wohnte und wo ich vom Widerstand gegen die Nazis erfuhr (Ernst Busch). Und Berlin ist: Max Liebermann und Kurt Tucholsky. So war es für mich besonders gut, daß der alte Rowohlt, als er bei uns Brotsuppe aß, mich für seine Berliner Niederlassung engagierte. Sie stellte das erste Buch nach dem Krieg zusammen: Gruß nach vorn.

Also der Name Ernst Rowohlt, ein wichtiger Mann und ein bedeutender Verlag, was ist Ihnen aus dieser Zeit in Erinnerung geblieben?

Rowohlt hatte ja von allen vier Besatzungsmächten die Lizenzen, und so gab es damals eine kleine Zweigstelle in Berlin, in der Friedrichstraße. Und die leitete Mary Gerold-Tucholsky, eine fabelhafte Frau! Über die Praxis des Rowohlt Verlages oder auch des Verlegers kann ich nichts weiter sagen. Für den Alten habe ich nie gearbeitet, für Ledig einmal, und das hat mir gereicht. Ich glaube, ich habe den ganzen nächsten Tag gebraucht, um alles aufzuarbeiten, was er mir diktiert hatte. Ich meine das nicht negativ. Es war einfach so, daß er ein richtiges Arbeitstier war, und arbeiten tat er besonders gern abends bis in die Nacht hinein.

Also Rowohlt. 1950 waren wir nach Worpswede gezogen, und im Herbst fuhren wir mal nach Hamburg, um Rowohlt zu besuchen. Im Lauf des Gesprächs sagte der Alte, auch Väterchen Rowohlt genannt, zu Wolfgang: Willst du Lektor im Verlag werden? Wolfgang überlegte kurz und sagte dann: Ja, und wann soll ich anfangen? Antwort: Morgen. Marek (C. W. Ceram) war damals Lektor, hochbegabt und mit kühlem Verstand, und er hatte mit seinem Buch Götter, Gräber und Gelehrte so viel Erfolg, daß er keine Lust mehr auf Lektoratsarbeit hatte. Dazu muß gesagt werden, daß der Alte für jedes Manuskript, sei es noch so schlecht, ein Votum verlangte. Es bestand dann manchmal nur aus einem Satz, und Manuskripte kamen damals täglich ziemlich viele. Wolfgang fing auch wirklich als Lektor bei Rowohlt an, wenn auch nicht sofort, aber doch wenige Tage nach diesem Rowohlt-Angebot. Ich machte im Verlag zunächst Urlaubsvertretungen und kam auf diese Weise in fast alle Abteilungen, außer der Vertriebsabteilung, da hätte ich mich geweigert! Es war sehr interessant und sehr komisch. Ich habe viel gelernt und nie wieder soviel gelacht. Rowohlt selbst war einerseits korrekt, sehr auf Pünktlichkeit achtend, andrerseits schön verrückt, wie man weiß. Er war auch sehr großzügig und der erste, soviel ich weiß, der den freien Samstag einführte. Ledig war, wie schon gesagt, ein genialer Arbeitsmensch. Willi Wolfradt, ein Emigrant, war mit Wolfgang zusammen Lektor. Von ihm erfuhr ich, daß die Amerikaner nichts in die Reinigung bringen, sondern die Klamotten einfach wegschmeißen, wenn sie dreckig sind. Außerdem las er mir aus unaufgefordert eingeschickten Manuskripten vor, was ein Hochgenuß war. Am meisten profitiert habe ich von der Herstellungsabteilung. Dort riet man mir, in der Hochschule für Bildende Künste Setzen zu lernen, bei Richard v.Sichowsky und Otto Rohse. Es war wunderbar: Ich bekam ein Gefühl für die verschiedenen Schriften und überhaupt für Typographie.

Wolfgang Weyrauch hatten Sie schon während des Krieges in Berlin kennengelernt. Sie haben das Entstehen vieler seiner Bücher, die heute von jüngeren Leuten kaum gelesen werden, im Buchhandel aber auch nicht mehr zu sehen sind, begleitet. War das abenteuerlich?

Nein, ich fand das nicht abenteuerlich. Ich bin in diese Arbeit hineingewachsen, ich war erheblich jünger als er. Erst als wir nach Gauting bei München gezogen waren, das war 1958, habe ich angefangen, alle seine Texte abzuschreiben, und ich habe sie auf diese Weise wohl anders kennengelernt, als wenn ich sie nur gelesen hätte.

Nach Krieg und Gefangenschaft begann auch für Wolfgang Weyrauch ein neues Leben in einer abenteuerlichen Zeit. Welches waren die wichtigsten Stationen auf diesem neuen Weg?

Für Wolfgang begann sozusagen mit dem Ende des Krieges 1945 ein neues Leben. Schon in der russischen Gefangenschaft in Landsberg an der Warthe hatte er an der Lagerbühne mitgearbeitet, auch eigene Texte gelesen. Im Dezember 1945 erschien die erste Nummer des „Ulenspiegel“ mit amerikanischer Lizenz; Günther Weisenborn hatte ihn als Redakteur engagiert. Die Zusammenarbeit mit dem Zeichner Herbert Sandberg (11 Jahre Buchenwald), Karl Schnog (Emigrant) und Weisenborn (Rote Kapelle) war für ihn genau richtig. Er hat im „Ulenspiegel“ junge Autoren vorgestellt und eigene Texte veröffentlicht, unter mehreren Pseudonymen geschrieben. Sein erster Gedichtband erschien 1946 im Aufbau-Verlag (Einband und Umschlag von Heinrich Kilger, mit dem er in der Kriegsgefangenschaft war), und in diesen Gedichten empfindet man stark die damalige Aufbruchstimmung, die Hoffnung besonders: Nun wird alles anders, gut, es gibt keine Kriege mehr. 1949 kam bei Rowohlt die Anthologie Tausend Gramm heraus mit dem berühmten Kahlschlag-Nachwort: „Die Männer des Kahlschlags ... schreiben die Fibel der neuen deutschen Prosa.“ Das war ein ganz starker Impuls: Mit der Nazi-Sprache mußte gebrochen werden, auch mit neuem Pathos: „Die Schriftsteller dienen, wo immer sie schreiben, der Verminderung des Bösen im Menschen. Die Schriftsteller filtrieren, und sei es in einem Nebensatz, durch ihre Individualität, durch ihre Leidenschaft, durch ihren Gedanken, durch ihre Furcht und Furchtlosigkeit.“

Wolfgang war bei aller Intellektualität naiv und glaubte an das Gute im Menschen. Für wichtig halte ich vor allem seine Hörspiele. Ich denke an „Die japanischen Fischer“, „Woher kennen wir uns bloß?“, „Die Minute des Negers“, an „Heute abend kam Besuch“ und an „Totentanz“, dafür bekam er den Hörspielpreis der Kriegsblinden.

Sich an seine ersten lyrischen Versuche in den fünfziger Jahren erinnernd, bemerkte Peter Härtling einmal, daß ihm Wolfgang Weyrauch, dem er seine Gedichte zeigte, wie ein „magischer Mittelpunkt“ vorkam. Da war einer, der schon was erlebt hatte, selbst schrieb und zugleich verständnisvoll fordernd junge Autoren förderte. „Er half“, erinnert sich Härtling gesprächsweise, „ohne daß es auffällig war.“ Wolfgang Weyrauch hat sich selbst einmal als „Satzmacher“ und als „Verwörtlicher, ein Buch-Stab aus unserm ABC“ bezeichnet. Das hat er sofort auch auf junge Autoren bezogen?

Ja, Wolfgang hat immer viel für junge Leute gemacht: im Süddeutschen Rundfunk ein Literatur-Journal, hauptsächlich für junge Autoren; im Südwestfunk eine Sendereihe „Für junge Hörer“; im Paul List Verlag ein Kalendarium für junge Leute, betitelt „Das Jahr“; schließlich hat er den „Leonce-und-Lena-Preis“ für junge Autoren begründet, den er sechsmal allein juriert hat. Für ein Gedicht gab es damals immerhin 1000 DM, gespendet von einer Darmstädter Firma.

Über das Geburtsjahr von Wolfgang Weyrauch, überall steht 1907 gedruckt, gibt es noch eine Neuigkeit zu vermelden?

Mit dem neuen Leben 1945 hat er auch insofern Ernst oder Spaß gemacht, indem er sich drei Jahre jünger machte, was er so konsequent durchhielt, daß fortan in allen Lexika das falsche Geburtsdatum stand und steht.

Geboren wurde er in Königsberg, aber Berlin war seine Stadt, lange Jahre. Unmittelbar literarisch hat sich das aber nicht niedergeschlagen?

Nein, Texte über Berlin hat er kaum geschrieben, er war ein Frankfurter, und das einzige Mundart-Gedicht schrieb er auf frankfordsch, „Junger Frankforder“. Das war mit ein Grund, weswegen wir 1967 nach Darmstadt zogen, denn einmal in der Woche fuhr er nach Frankfurt und lief durch die Straßen.

Hat er literarische Vorbilder gehabt?

Zu erwähnen wäre eine große Affinität zu Alfred Döblin, den er in Baden-Baden besucht hat. Von Berlin Alexanderplatz hat er eine Hörspielfassung für den Hessischen Rundfunk gemacht.

Und da bin ich bei den Emigranten. Wirklich befreundet waren wir mit Hermann Kesten und Ludwig Marcuse. Auf der Reise nach Cap Circeo 1954 zur Tagung der Gruppe 47, deren Mitglied Wolfgang war, waren wir einen Tag in Rom. Hermann Kesten, der die Stadt mit Hilfe des Baedekers erforscht hatte, führte uns, und ich glaube, ich habe an diesem einen Tag mehr und intensiver gesehen als andre Menschen in einer Woche. Einmal gelang es uns, Kesten in unsre Wohnung in Darmstadt zu bekommen. Das war nicht einfach, denn mit ihm traf man sich gewöhnlich nur in Kaffeehäusern. Er ging durch die ganze Wohnung im Glückert-Haus (Jugendstil von Olbrich), blickte aus dem Südfenster in den Odenwald hinüber und sagte: „Die Wohnung ist wunderbar, sie hat nur einen Fehler: Sie ist in Darmstadt.“ In dieser Stadt gibt es keine (kaum welche) Kaffeehäuser! Marcuse und seine Frau Sascha haben wir oft in Bad Wiessee besucht. Es gibt ein wunderbares Foto von Stefan Moses: Marcuse im Mantel in seinem Zimmer stehend, hinter ihm auf dem Schrank zwei Koffer, ein typisches Emigrantenbild!

Ich hatte immer Minderwertigkeitskomplexe, also sagte ich irgendwann: Ich bin doof, eintönig und spießig. Daraufhin nannte Wolfgang mich Desp, was Marcuse monierte, weil das nicht weiblich war, und so wurde ich zur Despe. Dies mußte ich dem Herausgeber der Marcuse-Briefe, Harold von Hofe, erklären, der die Erläuterung in den Anmerkungen druckte. Siegfried Kracauer habe ich leider nur einmal gesehen und gesprochen, bei einem Abendessen in München mit Ernst Bloch. Über alle drei hat Wolfgang viele Rezensionen geschrieben.

Lebensgeschichten und Literaturgeschichte. Alles gehört zusammen, ist schwer voneinander zu trennen. Walter Jens erinnert sich an Wolfgang Weyrauch so: „Ein Moralist also, der nicht davon lassen mochte, die Umkehr aller Verhältnisse im Sinn einer Vermenschlichung der Welt ins Auge zu fassen.“ Und Karl Krolow, Lyriker und viele Jahre in Darmstadt Ihr Nachbar, notierte: „Hier wird Wissen-Wollen, Bescheid-bekommen-Wollen (was gar nichts mit irgendwelcher Neugier zu tun hat) in direktes Zur-Rede-Stellen umgesetzt: auf der Stelle, wie es Weyrauchs Art ist, weil er die langen Anläufe, das Hin und Her und Drumherum nicht aushalten kann, wie es zuweilen offenkundig wird.“ Und auf sich selbst bezogen hat Wolfgang Weyrauch gesagt, daß der Schriftsteller einer ist, der „sich selber geißelt, damit die andern nicht gegeißelt werden, der fragt und fragt: Wie geht es Ihnen? Aber die Erkundigung ist keine Höflichkeit, sondern ein Schlag ans Menschentor.“ Ein Pathos, das er auch wieder aufzulösen verstand, und als Dichter spricht er allemal für mich über die Zeiten hinweg: „Das Gedicht besteht überhaupt bloß aus Fragen. Die Antworten fügt der Leser hinzu, falls er will, falls er kann.“

Fragen und Zweifeln sind für Wolfgang Weyrauch die wichtigsten Gedanken. Das sagt er in dem langen Gedicht „Lieber T.“ seinem Sohn Tobias, das sagt der Clown (in „Ein Clown sagt“) seinen Zuhörern, und das sagt der Autor in vielen seiner Texte: „Wenn Ihr mir sagt, daß ich die Wahrheit sage, / so zweifle ich, ob es die Wahrheit ist. / Was ich auf meinem krummen Rücken trage? / Ein Fragezeichen, das sich selber frißt.“

Ein treffliches Bild, aber es gab auch, was das Lesen betrifft, „lesen macht wach“ (in „Kein Nachtwächter, ein Tagwächter“), ganz andere Seiten bei ihm?

Wolgang war ein passionierter Krimileser, er hat Helmut Heißenbüttel nicht nur zur Gruppe 47 gebracht, sondern ihn auch zum Krimilesen verleitet.

Frau Weyrauch, ich weiß, seitdem wir uns kennen, daß auch Sie eine passionierte Leserin sind. Neben der Liebe zur Kunst war Ihnen von Kindheit an auch lesen wichtig. Was las man früher in Berlin, vor dem Krieg und natürlich später?

Zunächst las ich sämtliche „Nesthäkchen“-Bände der Else Ury, dann natürlich Erich Kästner, denn Emil und die Detektive spielte genau dort, wo ich wohnte und zur Schule ging. Ich las auch die „Kränzchen-Bibliothek“ - grauenhafter Kitsch! In der Klasse hatte ich eine Freundin, zwei Jahre älter als ich, deren Vater Conferencier war. Bei ihr zu Haus herrschte also eine total andere Atmosphäre als bei mir. Von ihr habe ich eine Menge gelernt. Sie riet mir, in die öffentliche Bibliothek zu gehen. Dort lieh ich mir Dostojewski aus und las fast alles von ihm. Mit sechzehn las ich die Buddenbrocks, fand sie langweilig; später revidierte ich dieses Urteil, heute zähle ich dieses Buch zu meinen Lieblingsbüchern. Und bei dieser Freundin hörte ich auch zum erstenmal klassische Musik. Was das Lesen betrifft, so müßte ich noch die „Bibi“-Bücher von Karin Michaelis erwähnen und kurz vor dem Krieg Vom Winde verweht. Nach dem Krieg zunächst Hemmingway, und sehr fasziniert war ich von Faulkner, dann Elisabeth Langgässers Das unauslöschliche Siegel und Hermann Kasacks Die Stadt hinter dem Strom.

Sie wissen ja, ich lese auf Cassetten für Blinde (der Augen wegen). Jetzt hab ich ein Buch von Jürgen Fuchs gelesen: Magdalena - grauenhaft, das hebt meine Stimmung nicht. Als Trost lese ich abends Platero und ich von Juan Ramón Jiménez - wunderbar! Und von Alberto Manguel Eine Geschichte des Lesens, gefällt mir sehr. Proust kann ich nicht lesen. Ich habe jetzt wohl den vierten Anlauf genommen und bin wieder hängengeblieben. Liegt’s an mir?

Sie leben heute in Hamburg, in der Nähe Ihrer jüngsten Tochter. Was bindet Sie an eine Stadt, in der Sie leben?

Ich habe 25 Jahre in Darmstadt gelebt - erstaunlich, denn ich bin ein Großstadt-Mensch, und so ist es mir angenehm, wieder in einer solchen Stadt zu wohnen. Aber eine Bindung habe ich nicht, das heißt, ich könnte, ohne Wehmut zu empfinden, woanders hinziehen. Hamburg ist eine schöne Stadt mit viel Wasser, das gefällt mir besonders.

Aber Berlin, immer wieder Berlin, Sie kommen in diese Stadt, Sie denken oft daran, Sie sind hier geboren und lebten lange hier, auch nach dem Krieg. Vieles geht hier verloren, manches muß man immer wieder neu finden. Was zieht Sie stets neu in diese Stadt?

Berlin: Das ist meine Stadt. Ich habe keine Heimatgefühle, suche auch keine Erinnerungen in Berlin. Ich bin entzückt, wenn ich den häßlichen Berliner Jargon höre. Die nüchterne Sachlichkeit der Berliner gefällt mir, ich möchte sagen, sie gehört zu mir. Was nun die große Schnauze betrifft, so reißen sie die Berliner hauptsächlich außerhalb ihrer Stadt auf, leider! In ihrer Stadt ist für sie alles selbstverständlich, kein Getue, höchstens Meckerei.

Sie reisen gern, auch ganz weit weg. Wenn Sie von Südamerika erzählen, wo Sie mehrmals waren, klingt das wie ein Gespräch über Himmel und Hölle. Was bedeutet Reisen für Sie?

Was das Reisen betrifft, so erzähle ich erst mal von Wolfgang. Er hat nie Urlaub gemacht. Für ihn war ein Tag ohne Schreiben ein verlorener Tag. Er verließ seinen Schreibtisch nur, wenn er mußte, also zu den verschiedenen Rundfunksendern, um seine Texte zu sprechen, zu Tagungen (selten) oder zu Lesereisen. Eine Anekdote: Wolfgang war von den Goethe-Instituten in London und Glasgow eingeladen. Am Abend vor seiner Abreise sagte er: „Ich fahre nicht, wenn du nicht mitkommst.“ Ich suchte also sofort jemanden, der unsre drei Kinder versorgen konnte, packte mein Zeug, und am nächsten Tag fuhren wir los.

Ich glaube, ich bin niemals auf eigene Initiative hin verreist, sondern es hat sich immer ergeben. Zum Beispiel als meine liebste Freundin mich 1982 fragte, ob ich mit ihr nach Kreta fliegen wolle, sagte ich ja. Daraufhin sind wir mehrere Male dort gewesen, bevor die Touristen schwärme einfielen. Nach Südamerika flog ich auf Einladung von Wolfgangs Sohn aus der ersten Ehe, dafür mußte ich auch noch Spanisch lernen! Er lebt in Buenos Aires, seine Mutter in Santiago de Chile. So war ich inzwischen dreimal dort. Sollten meine Erzählungen über Chile und Argentinien klingen wie über Hölle und Himmel, so kann das nur von der Diskrepanz zwischen den beiden Wahnsinnsstädten und meinen Reisen in den Norden Argentiniens und in den Süden Chiles herrühren; dieser Gegensatz ist allerdings gewaltig. Übrigens kam ich auch so nach Venedig, indem mich ein befreundetes Ehepaar einlud. Über diese Traum-Stadt sage ich gar nichts, weil ich unfähig bin, meine Begeisterung für Venedig in Worte zu fassen.

Wir haben oft in den letzten Jahren über den Zustand der Welt gesprochen. Welche Ängste, aber auch welche Hoffnungen haben Sie am Ende dieses Jahrhunderts?

Ängste habe ich nicht, aber auch keine Hoffnungen. Ich nehme an, die Geldgier wird weiter zunehmen und damit auch die Rücksichtslosigkeit, der Egoismus, die Hemmungslosigkeit zuzuschlagen, gar zu töten. Zunehmen wird auch die Oberflächlichkeit, das Spaß-haben-Wollen. Ich bin pessimistisch, was die Zukunft angeht.

Das Gespräch führte Helmut Hirsch


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 05/00 (c) Edition Luisenstadt, 2000
www.luise-berlin.de

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